Leipzig d. 21/5 1838.
Unmöglich konnte ich die Gelegenheit vorübergehen lassen, ohne meiner lieben Freundin, deren ich oft und so herzinniglich gedenke, einige Zeilen zu senden; ich weiß, Sie gönnen ihnen einen freundlichen Blick.
Wir sind glücklich hier angekommen, nachdem wir, anstatt über München, zurück nach Wien gingen, wo wir einen Tag incognito waren um Thalberg zu hören. Er war sehr gefällig und spielte mir eine ganze Stunde vor; seine Mechanik |2| ist vollendet und seine Eleganz außerordentlich – aber so hinzureißen wie Liszt, trotz dem daß dieser das Schönheitsgefühl oft beleidigt, vermag er mich nicht; ich spreche zu einer Freundin der ich vertrauen darf. Ach, wie sehne ich mich nach Ihnen! – Neulich besucht ich in Dresden Ihre Mutter, und fand daß Sie große Aenlichkeit [sic] mit Ihr haben. Ihre Mutter war sehr liebenswürdig, und flößte mir eine augenblickliche Neigung ein.
Gern flög ich mit Ueberbringer |3| Dießes zu Ihnen – das Vöglein ginge mir vom Herzen.
Gestern machte ich die interressante Bekanntschafft des Herrn Dessauer, den Sie sicher in Wien kennen gelernt. – Doch beinah vergäß ich ganz Ihnen von Grätz alle die Tausend Grüße zu senden, die man mir auf die Seele gebunden. D. Pachler war unser steter Begleiter, und trotz der nicht günstigen Witterung waren wir auch auf seinem Weinberg, von wo aus wir Ihr Lieblingsplätzchen Mariazell oder wie es heißt, |4| sehr schön übersehen konnten. Leider war die Zeit zu kurz dasselbe zu besuchen. Wie schön sind doch die Berge und wie lieb ihre Einwohner! – Hier such ich die Berge vergebens – die Musik entschädigt dafür. Eben traf ich Madam Schroeder und sprach Ihr viel von Ihnen. Sie macht Furore in Gastrollen; auch Mendelssohn war bis jetzt da, ist aber zum Musikfest nach Köln gegangen.
Nun erlauben Sie mir Ihnen noch viel Schönes an den lieben Herrn Gemahl und Grüße an Jenger aufzutragen; Ihre Kleine küssen Sie, ich aber küsse Sie im Geist, und nicht wahr? Sie gönnen bald ein paar Zeilen Ihrer
Clara Wieck.
Der Carnaval-Compositeur wird Sie bald in Wien besuchen – schenken Sie Ihm ein freundlich Wort.
Liszt soll sehr aufgebracht sein, daß ich nach Wien zurück gekommen um Thalberg zu hören – ich kann es nicht glauben!
Meine Adresse ist einfach „An Clara Wieck in Leipzig“.
Entschuldigen Sie die eilige Schrifft.
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