Dresden, am 12. Febr. 1840.
Verehrtester Herr und Freund!
Da Sie in Ihrem werthen Rückschreiben Sich zu meiner herzlichsten Freu¬de geneigt zeigen, in Ihrer Zeitschrift dem Publicum eine grössere Probe von meinen Componistenschulen-Tafeln zu geben, so folgt <> verlang¬termaassen hierbei die größte von allen, die Bachische geistige Nachkom¬menschaft. Später vielleicht, als Sie ihr entgegen gesehen! Es war mir aber besonders nach Correspondenz und Rücksprache mit beiden Schneider (deren eigene Lehrer und deren Schüler – wie auch einige Lebensverhältnisse – nun desto authentischer und sicherer ins Publicum kommen), mit Reissiger, Otto, Hartung u. A. m. nöthig, um der Tafel ganz die Genau¬igkeit zu geben, die ich ihr wünschte. Können Ew. Wohlgeb. Sich selbst auch noch in die Tafel bringen, so geschähe mir eine wahre Freude; ich meinestheils habe dieß aber nicht vermocht. Ein Honorar läßt sich für die Tabelle natürlich weder abmessen noch verlangen; ich bitte, sofern Sie dieselbe wirklich lithographiren lassen (denn diese Vervielfältigungsweise ist doch wohl die passendste) statt eines Honorares um 12 Exemplarien, die ich meist an J. Schneider, Reissiger, Otto, die Dreyssig’sche Akademie, Hartung u. a. musikalische Bekannte verschenken will; eines kommt auch nach Görlitz an den Pastor Haupt, von dessen interessanter Sammlung von mehr als 200 wendischen Nationalmelodien (die fast insgesammt noch, wie Hussiten-Choräle, den Gesetzen der Kirchentonarten folgen, und daher zwar fremdartig, aber ansprechend erklingen) Sie hoffentlich schon wissen. Er sucht nun einen guten Verleger dafür. Möchte ich doch auch einen solchen für mein besprochnes Werkchen finden!
Der Tafel lege ich auch meine Notizen zu den darauf bezeichneten Männern bei, damit Sie ersehen, in welchem (gefliessentlich beschränk¬tem) Maasse ich auch jene zu den übrigen Tafeln liefern würde. Ich brau¬che Ihnen gar nicht erst zu bemerken, wie lieb es mir seyn würde, wenn Sie diese Notizen ebenfalls wollten abdrucken lassen; doch weiß ich wohl, daß ich dieß nicht verlangen darf, da sie – wenngleich kurz gehalten – doch im Ganzen viel Raumes heischen. Sie abzukürzen, würde Ewr. Wohlgeb. völlig frei stehen. Vom Sebastian selbst habe ich übrigens nicht gespro¬chen, da dieser nach meiner Meinung in der Theile’schen Tafel zu behan¬deln ist. – Gehe ich nach dem Interesse, das Reissiger, J. Schneider, Otto u. A. allhier an meiner Idee zeigen, so darf ich hoffen, auch ein allgemei¬nes damit zu erregen. In den Notizen finden Sie eine Note, in welcher ich, Ihre gütige Vermittelung vorausgesetzt, den Lesern einen besondern Aufsatz über Dresdens stereotype Musiken versprechen; und ich bin der Meinung, daß dieser Gegenstand gewiß, nachdem man so lange immer blos von der stehenden Musik der päpstlichen Capelle gelesen, vielen Lesern ein interessanter und willkommener seyn würde; doppelt wichtig aber den Leipzigern, die |2| es jetzt so leicht und kurz haben, Dresden wegen eines ausgezeichneten Tonwerkes zu besuchen. Aber freilich muß ich Sie sogleich dahin aufmerksam machen, daß sich unmöglich mit blo¬sen 2 Worten über eine so umfangreiche Sache, welche auch mit Noten-beispielen zu begleiten seyn wird (denn ich habe mir, wie aus Hauptmissen von Hasse, Naumann, Zelenka und Schuster, viele Themata, Wendungen u. s. w. nach dem Gedächtnisse aufgeschrieben, zu welche Behufe ich, um nichts zu vergessen, gar oft das Mittagsessen Sonntags versäume) spre¬chen läßt. Es kommen nämlich hierbei die (im Gloria wohl noch uner¬reichte) Hasse’sche Dmoll-Misse, die Naumann’sche Weihnachtsmis¬se, sein Choral Benedicamus, sein Offertorium für die Metten, die Seidelmann’sche Weihnachtsmisse, Schürers Mettengesang, 2 Tedeums von Hasse, 2 Requiems von Schürer, das C-Requiem von Hasse,22 das Requiem von Galuppi, das von Seidelmann, Schusters köstliches Sta¬bat, 2 Misereris von diesem und eines von Zelenka, Hasse’s Cmoll-Vesper, eine Misse von <von> Palestrina, der hussitische Choral „o Lamm Gottes“, zur Sprache. Ueber letztern scheint mir ohnedieß eine besondre Untersuchung um so nöthiger, als er nicht etwa blos in meinen Augen unvergleichlich dasteht, sondern auch über seinen Ursprung vie¬lerlei irrige Ansichten verbreitet sind; überhaupt wünsche ich, einmal alle diejenigen Choräle (meist irrig Luthern zugeschrieben) zu benennen, die ich in den vorlutherischen Choralbüchern auf hiesiger Bibliothek schon gefunden habe. So dürfte auch ein kleiner Excurs über das Bernhardische Choralbuch und über Schützens und Dedekinds Stellung zu demsel¬ben nicht überflüssig seyn.
Nachdem ich einmal wieder meine Dresdener Componisten (ohne die jetzigen) durchgelaufen bin und zusammengezählt habe, finde ich de¬ren an 220. Sollte es denn nicht Ihrem Einflusse bei gütiger Fürsprache möglich seyn, mir dafür einen Verleger zu gewinnen? es wird doch jährlich so viel gedruckt, was nicht nur ohne sonderlichen Werth ist, sondern auch dem Gegenstande nach nicht halb so viel Interesse finden kann. Unend¬lich ist die Zahl der (großentheils zur Musikgeschichte gar nicht gehöri¬gen) Quellen, die mir Tröpfchen oder Kannenvoll beigesteuert, und ich kann unbedenklich versichern, daß p. E. von dem, was ich über Naumann gesammelt habe, noch lange nicht die Hälfte in seiner Biographie von Meißner steht; hiernach können Sie auf das Ganze schliessen, welches jedoch nur einen mässigen Band erfordern würde. Denn natürlich mußten alle Weitläufigkeiten u. s. w. streng vermieden werden.
Sie erhalten beiliegend auch einen kürzeren Aufsatz, zur übersicht¬lichen Kunde der Musikgeschichte, wie ich glaube, nicht ohne Nutzen; ich würde mich daher freuen, wenn Sie ihm die Aufnahme in die Zeitung gönnen wollten. Soll dieß der Fall aber nicht seyn, so bitte ich (wie über¬haupt für Alles, was Ihnen künftig nicht zusagen wird) aufs Schönste um die Mühe der Rücksendung; denn man kann doch unmöglich von Allem erst Abschrift nehmen, sondern bewahrt sich nur die Concepte auf.
Auch nehme ich keinen Anstand, Ewr. Wohlgeb. eine meiner frühe¬ren und für ein nicht zustande gekommenes Institut gefertigten Arbeiten hierbei zu überschicken, und Sie um Rath zu bitten, was damit passen¬derweise zu thun sey. Es ist dieß eine Geschichte der Dresdner Capelle, welche – nächst der römischen und der Innsbruck-Prag-Wienerischen sicherlich die glänzendste auf Erden – gar wohl der besonderen |3| ausführlichen Erforschung werth ist. Für Ihre Zeitung wird der Aufsatz freilich zu lang seyn; aber sollte es Ihnen nicht gelingen, mir einen Ver¬leger dazu zu werben? Hier in Dresden fehlt den Buchhändlern so sehr der Unternehmungsgeist zu etwas Anderm, als zu Liebesgeschichten. Es versteht sich, daß ich die nach Hasse’sche Zeit in 2 Perioden noch hinzu¬fügen will, deren Unterscheidungsgränze das Jahr 1801 bildet, und daß ich auch die beiden hier beikommenden Hefte für den Druck erst wieder umschreiben werde, theils zu Besserung des Styles, theils infolge mancher neuer Erfahrung und Entdeckung. Meine Bekanntschaft mit den beiden Capellmeistern und noch mehr jene mit dem ehrwürdigen Miksch, dem Inventarium und Bibliothekar der Capelle, kann und muß mir natürlich von grossem Vortheile seyn. In minderm Grade auch jene mit Rothe, der noch unter Naumanns Anleitung den Satz studirt hat.
Mit lebhaftem Verlangen Ihrer Entgegnung harrend, bin und bleibe ich
Ewr. Wohlgeboren
ergebenster
Albert Schiffner