23.01.2024

Briefe



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ID: 26776
Geschrieben am: Samstag 01.10.1870
 

Baden d. 1 Octbr. 1870.
Meine liebe Emilie,
wie traurig, daß wir uns nun doch wieder nicht sehen! ich kann nicht zu Dir kommen, weil ich schon Mitte Octbr. nach Berlin will, wo ich diesen Winter mein Haupt-Quartier aufzuschlagen denke, d. h. bis Neujahr; dann gehe ich nach England. Wien gab ich auf, weil ich mich nicht entschließen kann so lange der Krieg dauert, so weit fort zu gehen, ich wollte lieber im |2| Centrum Deutschlands bleiben, wo ich auch alle Nachrichten aus erster Hand habe. War ich die ganze Zeit schon mit all meinen Gedanken bei dem Kriege, so ist dies jetzt, wo mein Ferdinand mit vor den Thoren v. Paris steht, erst recht der Fall, ich bin eigentlich immer in wahrhaft fieberhafter Aufregung. Gebe Gott, daß die Sache bald und ohne Blutvergießen endige! – Es wäre ganz entsetzlich wühlten die Franzosen noch mehr in ihrem eignen Fleische, |3| als sie schon gethan, und verwüsteten Paris! – Du siehst nun, meine Mila, käme ich nach München, müßte ich ganz besonders die Reise darum machen, und für einen kurzen Aufenthalt. Ich denke aber nächstes Jahr nach Wien wieder zu gehen, dann richte ich mich jedenfalls auf einen Besuch bei Euch ein, hoffe indeß, daß es nicht so lange dauere, bis wir uns sehen! es ist doch schrecklich wenn man sich so selten sieht, wie wir uns, die wir unsere Jugendzeit zusammen in so innigem Verkehre verlebten! – |4| Daß Du die liebe Elise unter den Umständen, wie sie sind, nicht verlassen willst, begreife ich vollkommen; übrigens freuete ich mich zu hören daß sie sich doch wieder mit ihrem Hauswesen befaßt, das zeigt doch eine energische Regung in ihr, und kommt erst ’mal die Thatkraft wieder, dann wird sie auch genesen. Grüße sie und Hedi herzlichst. Ich hoffe ich höre manchmal von Euch? wenn’s auch nur Wenig ist! meine Adresse ist bis Mitte Octbr noch hier, dann Berlin, 127 Königsgrätzer Straße, bei Frau Mariane Bargiel. Dort |5| wird Eugenie ┌welche auf der Hochschule studieren soll┐ für 2–3 Monat wohnen – ich suche mir ein Chambre garni. Im Januar geht dann Eugenie mit uns nach England, da unsere Freunde bei denen wir wohnen, sie dringend eingeladen haben mitzukommen. Sie hat sich sehr nett entwickelt, und ist auch nebenbei recht hübsch.
So leb denn wohl, meine Beste! könnte oder wollte ich die Kinder hier allein lassen, so besuchte ich allein Euch auf 8 Tage, aber das möchte ich nicht, da wir gar keinen Verkehr haben, und die Kinder sich furchtbar einsam fühlen würden. |6| Vielleicht läßt sich dies aber im Frühjahr, wenn ich von England komme arrangieren.
Wie immer Deine
getreue
Clara
Marie dankt sehr für Deine Grüße.
Was hast Du wohl zu Cosima Wagner gesagt? der Cosima wird Wagner noch zur Nemesis werden, das bin ich überzeugt.

  Absender: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Absendeort: Baden-Baden
  Empfänger: List, Emilie (962)
  Empfangsort: München
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 8
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit der Familie List und anderen Münchner Korrespondenten / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Ekaterina Smyka / Dohr / Erschienen: 2022
ISBN: 978-3-86846-019-3
501ff.

  Standort/Quelle:*) Slg. Cornides 127a/b/c;
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



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