23.01.2024

Briefe



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ID: 25908
Geschrieben am: Mittwoch 19.05.1875
 

19.5.1875, Frankfurt a.M.
Soeben kam ich aus dem Schauspielhause wo ich mir die ersten drei Acte des Hamlet ansah, unter dem Vorwande den Musentempel kennen zu lernen wo meine Collegin ihre Triumpfe feiert. Besagte Collegin fand ich sogleich d.h. ich verschaffte mir ihre Adreße und traf sie in ihrer Wohnung bereits im Begriffe sich zu einem Besuche bei mir in höheren Pomp zu werfen. Mit ihr verbrachte ich den Vormittag mit einem Besuche des Palmenhauses. Nachdem besuchte ich den Bruder von Ebner’s Mutter den hiesigen Spieltenor Karl Baumann, einen Jugendfreund meiner Mutter, dieser machte in liebenswürdigster Weise meinen Cicerone führte mich in Göthe’s Geburtshaus und in den Zoologischen Garten, in die Judengaße und endlich zum Theater wo ich an der Seite meiner Collegin soviel Schauspiel anhörte als ich ertragen konnte. nun sitze ich ohne Hunger bei einem einsamen Thee und kann mich nicht entschließen, zu Bett zu gehen, ohne mit Dir geplaudert zu haben, mein liebes Genchen! Ich fuhr diesen Morgen, als ich in Cassel erwachte, so recht glücklich in die maigrüne Welt hinein und wenn ich Deinen Hut ansah so bildete ich mir ein, den wohlbekannten auf Deinem Kopfe sitzen zu sehen und so fuhrst Du mit mir und triebst mit mir praktische Geografie. Shakespears unheimlichen Prinzen mußt Du mir auch vertreiben und so mißbrauche ich Deine mir gegenwärtige liebe Seele, die ich von ihr ganz erfüllt bin.
Mein Genchen, ich habe physische Schmerzen so viele Meilen zwischen uns zu denken, und morgen nochmals so viele Meilen weiter von Dir zu gehen und doch reiste ich heute Morgen ganz vergnügt wärend mir vor der Weiterreise graut. Ich war gestern in einer Hetze mühsam mit packen fertig geworden, fuhr bei strömendem Regen zur Bahn und schlief ermüdet von der Tageshetze sofort ein. Du hast nun die Erlebniße meiner letzten 24 Stunden aber nicht in chronologischer Reihenfolge, ich bin überhaupt nicht gesammelt und gar keiner Sammlung fähig, morgen sieben Uhr geht’s weiter über Basel nach meinem Ziele, von wo ich Dir wieder berichten werde möge dann Ordnung und Sinn in mein Denken kommen.
(…) Nach Stuttgart komme ich gar nicht mein liebes, süßes, goldenes, englisches Genchen! gute Nacht!
Der obige Narr

  Absender: Fillunger, Marie (2260)
  Absendeort: Frankfurt a. M
  Empfänger: Schumann, Eugenie (1440)
  Empfangsort:

  Standort/Quelle:*) A-Wn,s.979/1-7
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



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