23.01.2024

Briefe



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ID: 23403
Geschrieben am: Donnerstag 01.02.1894
 

Frankfurt, den 1. Februar 1894.
Lieber Johannes,
Gott sei Dank machen mir meine Arme jetzt am wenigsten zu schaffen, ich kann Dir also gleich selbst berichten. Schwer heimgesucht sind die armen Stockhausens jetzt, jedoch was Du fürchtest ist nicht der Fall gewesen. Gretchen war schon seit ein paar Jahren in Freiburg in einer Glasmalerei-Schule, wo sie bereits eine Direktrice-Stellung innehatte, da sie sehr geschickt und begabt in dieser Kunst war. Zu Hause mit der Mutter ging es nicht recht, Gretchen wollte einen Wirkungskreis haben, Frau Stockhausen aber das Heft nicht aus der Hand geben, da sie doch selbst noch rüstig und ihm in allem große Stütze war. Hier in den Familien hatte Gretchen keine Stellung als arme Musikers-Tochter, und so entschloß sie sich zu der Glasmalerei. Anfang Oktober hatte sie nun das Unglück, sich den Finger an einem verrosteten Nagel an der Staffelei zu verwunden, was schon am anderen Morgen so schlimm war, daß sie in die Klinik mußte. Es dauerte einige Monate, bis der Finger geheilt war, aber er war steif, und sie konnte mit der rechten Hand nichts tun, und die Ärzte sagten, sie müsse, wenn sie wieder arbeiten können wolle, den Mittelfinger (das war der kranke) abnehmen lassen, wozu sie sich heldenmütig entschloß. Leider zeigte sich aber in der Hand wieder Eiterung, und so schien das Blut doch noch krank zu sein, und dazu kam plötzlich Diphtheritis, woran sie denn nach einigen Tagen starb. Die Eltern waren bei ihr, durften sie aber nur ein paar Minuten am Tage sehen, sie selbst winkte ihnen immer fort (sprechen konnte sie nicht, schrieb alles mit der linken Hand), wegen der Ansteckung. Er, der Arme, der nun fast blind ist, soll ganz fassungslos sein, sie fand ich kräftig und gefaßt. Sie sagte, wenn sie sich jetzt nicht zusammennähme, wisse sie nicht, was werden solle bei seiner Hilflosigkeit. Er war schon zu Weihnachten für eine Vor-Operation in der Klinik, die Haupt-Operation soll nun Ende Februar vor sich gehen. Frau Stockhausen war auch einige Monate sehr krank, und zu alledem kam noch Imanuels Verlobung mit einer Schauspielerin in Berlin, über die sie sehr unglücklich waren, da die Verhältnisse sehr ungünstig lagen. Imanuel wollte es aber durchsetzen, und die Hochzeit war für den 28. festgesetzt – gerade der Beerdigungstag des Gretchen. Es scheint, die Braut hat sich herzlos in dieser Zeit benommen (die Eltern kannten sie nicht), und so kam jetzt der Sohn, um den Eltern mitzuteilen, daß er wieder entlobt sei. Diese Sorge also wäre von ihnen genommen, aber es ist doch gar zu viel, was sie durchmachen. Wenn nur die Operation glückt! . . . . [Die Frau] hat doch sehr gute Seiten und ist ihrem Manne eine treue Stütze, hat ihre Kinder tüchtig erzogen. Sie mag es auch nicht immer leicht gehabt haben! – Du kannst Dir wohl denken, wie wir all ihr Leid jetzt mitempfinden. Und das nicht allein, noch eine traurige Sache, die Ehescheidung des jungen Scholz, beschäftigt uns viel. . . . . . Außer diesem gibt es noch allerlei, Fallissements die Menge, z. B. Strutt in Mailand, der Vater der Frau Hugo Becker, und andere.
Aber Freuden hatten wir doch auch durch die Duse, die ich leider nur einmal sehen konnte, die mich aber doch sehr interessierte, wenngleich sie keine Wolter ist, und Joachim, der einen Abend bei uns war, mir ein Quartett von Robert und dann mit mir Deine 3. Sonate spielte. Da war ein reiner Genuß, wie er einem selten wird. In dem ersten Satze hatte ich immer das Gefühl bei dem Wogen der Harmonien ineinander, als schwebe ich in den Wolken. Ich liebe diese Sonate unbeschreiblich, jeden Satz! – Wer weiß, ob es nicht das letztemal war, daß ich spielte!
Du hast wohl gehört, daß der Siegfried Wagner das nächste Opernhauskonzert dirigiert!!! . . . .
Ich hörte, man habe Dich vom Theater aus aufgefordert, hierherzukommen und ein Konzert zu dirigieren, aber, so sehr es mich freuen würde, Dich zu sehen, so mag ich mir Dich nicht gern als reisenden Dirigenten denken. Kämest Du mit einem neuen Orchesterwerk, so wäre das eine andere Sache. Ich habe nichts mehr davon gehört!? Ich komme mir ganz unbescheiden vor, wenn ich von einer neuen Symphonie etc. spreche, als ob Du uns nicht reichste Schätze in diesem Jahr wieder gespendet hättest! – In London schreiben sie recht eingehend über die neuen Stücke, die Ilona gespielt. Manches ist recht gut, was sie sagen, wenngleich es ja nicht möglich ist, bei einmal Hören (noch dazu im großen Saal) all das Feine, Tiefe, Großartige zu verstehen; dann glaube ich, unter uns gesagt, nicht, daß Ilona sie so erfaßt, wie sie es verlangen, sie geht zu schnell über alles hin. Doch, das ganz unter uns.
Sehr interessiert hat uns Hanslicks Aufsatz über Dich und Wagner, er ist doch ein famoser Beurteiler und hat Courage!
Von mir schließlich, daß ich mich zwar nicht wohl (schon durch das peinliche Kopfleiden sehr gequält) befinde, aber ich fühle mich doch zur Arbeit, mit Maß, kräftig genug.
Leb’ wohl, lieber Freund.
Deine alte
Clara.
Heute vorm Jahr waren wir zusammen mit Dir bei Sommerhoffs.

[Umschlag]
Herrn
Dr Johannes Brahms.
Wien IV
4 Carlsgasse.

  Absender: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Absendeort: Frankfurt am Main
  Empfänger: Brahms, Johannes (246)
Empfangsort: Wien
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 3
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Johannes Brahms und seinen Eltern / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Thomas Synofzik / Dohr / Erschienen: 2022
ISBN: 978-3-86846-014-8
2165-2168

  Standort/Quelle:*) Umschlag: A-Wst: 55746,51a
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



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