23.01.2024

Briefe



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ID: 23363
Geschrieben am: Dienstag 12.08.1890
 

Obersalzberg bei Berchtesgaden,
Pension Moritz, den 12. August 1890.
Lieber Johannes,
wie oft dachte ich all die Zeit an Dich, zum Schreiben kam ich aber immer nicht, denn wir haben die ganze Zeit, und noch zum Teil, so aufregende Korrespondenzen wegen Ferdinand und Familie, daß ich außerdem nur immer das Nötigste zu erledigen suchte, denn es fehlte mir die Stimmung, die man doch braucht zum Briefe schreiben. Nun drückt mich aber meine Schuld gegen Dich sehr, und ich hörte auch so gern einmal ein direktes Wort! Ich möchte auch gar gern, Du plaudertest ’mal ein wenig aus Deiner Werkstätte! Das ist aber wohl nicht zu erhoffen?
Wir sind seit 10 Tagen hier und müssen aber dem Himmel wahrlich die guten Stunden abstehlen. Wir haben wenig gute Tage, und sitzen tagelang in dichtem Nebel in der Stube – das ist bitter und sehr langweilig, nicht gerade das Gemüt erheiternd! Ich will aber doch bis die ersten Tage September aushalten, denn die Luft ist doch kräftig und oft erquickend, es geht mir auch körperlich nach Franzensbad besser, wenngleich die Folgen der Influenza noch immer nicht ganz weichen wollen. Wäre es ein schöner Sommer, würde ich Dir doch ’mal zureden, unseren Berg kennen zu lernen, aber wie gesagt, es ist zu schlimm mit der Witterung! Heute sitzen wir wieder im Nebel, es regnet immerfort, und wir sind ans Zimmer gebannt.
Notabene: Was mich in Widmanns Müslin irregeführt, war, daß er erzählt, wie Müslin die Kinder so gern hat, was doch so besonders eine Eigenschaft von Dir ist. In manchen anderen Charakterzügen und Eigenheiten konnte ich Dich auch eigentlich nicht herausfinden. Das andere Buch konnte ich noch nicht lesen, weil ich in dieser letzten Zeit viel an den Augen laborierte und dazu vieles zum Lesen geborgt bekam, was ich schneller lesen mußte, jetzt z. B. wieder sechs Hefte Rundschau von Ebner-Eschenbach. Sobald ich nach Hause komme, hole ich Widmann nach. –
In Franzensbad habe ich eine nette Frau, Lang-Littrow, kennen gelernt, leider erst zwei Tage vor unserer Abreise. Sie hat mir ein Büchlein, Erinnerungen aus der Franzosenzeit ihrer Großmutter, geschickt, – wir haben uns schnell zueinander gefunden, d. h. gern zusammen unterhalten, wenigstens meinerseits hatte ich das Gefühl! – Hier ist Frl. Wendt mit Freundin. – Diese kennst Du! Sie sind mir angenehm, ganz besonders auch die Freundin, die so sehr natürlich und gescheit dabei ist. . . . . .
Anna Franz, die alte liebe gütige, sah ich neulich oben mit der armen Frank. Neulich überraschten mich auch Hausmanns, die nach Gastein gegangen sind.
Die furchtbaren Eisenbahnunglücke liegen mir schwer in den Gliedern, es ist ja entsetzlich, und verfolgen mich, besonders in den Nächten, die entsetzlichen Situationen der Verunglückten. . . . . .
Ich habe Dir so gar nichts Interessantes mitzuteilen – habe Nachsicht, lieber Johannes, und sende bald einmal wieder ein liebes Wort
Deiner alten Clara.
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[Umschlag]
Herrn Doctor
Johannes Brahms.
Ischl.

  Absender: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Absendeort: Vordereck/Obersalzberg
  Empfänger: Brahms, Johannes (246)
Empfangsort: Ischl
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 3
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Johannes Brahms und seinen Eltern / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Thomas Synofzik / Dohr / Erschienen: 2022
ISBN: 978-3-86846-014-8
1956ff.

  Standort/Quelle:*) Umschlag: A-Wst: 55746,24b
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



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