23.01.2024

Briefe



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ID: 23361
Geschrieben am: Dienstag 06.05.1890
 

Frankfurt a./M., den 6. Mai 1890.
Lieber Johannes,
wie lieb ist es mir, daß ich nun weiß, wo meine Gedanken Dich zu suchen haben. – Wünsche willst Du keine, sie sind ja auch täglich dieselben, aber ich möchte Dir wenigstens sagen, daß ich mit all meinen Gedanken bei Dir bin, und unter Euch zu Tisch bei Fellingers! Könnte ich es in Person!
Dank für Deinen lieben Brief – wie freut mich, daß Ihr Italien wieder so genossen habt – ich hatte Eure Reise in Gedanken beim Lesen der italienischen Reise des Dr. Müslin schon mitgemacht, wie hat mich das Buch angesprochen, wie reizend erzählt es, und wie amüsant zuweilen Dein Porträt! – Das andere Buch habe ich noch nicht gelesen, ich hatte so vieles zu lesen, veranlaßt durch Sonnenthals Gastspiel hier, daß [sic] mir, obgleich ich kaum ein Wort von ihm verstanden, die höchsten Genüsse geschaffen hat! Seinen Bolingbroke und vor allem den Hamlet, das vergesse ich nie – – das waren Gestalten, die mit einem durchs Leben gehen; ich sah ihn sechsmal hintereinander, und jedesmal war es ein wahrer Genuß, ich
fühlte mich ordentlich jung innerlich, schwärmte wie in meinen Mädchenjahren, damals unbewußt, jetzt bewußt. Da habe ich denn die ganze Zeit vor und nach gelesen, alle die Stücke, die er gab, auch den Wallenstein, und so kam ich zu keiner anderen Lektüre außer dem Dr. Müslin. – Sonst gibt es nichts von Belang zu berichten, 8 Schulkonzerte, nicht wahr, das klingt lieblich! Es ist aber doch manches erfreulich. Wenn denn doch einmal so viel Musik in der Welt sein muß, dann ist unsere doch immer ganz gut, mehr kann man ja nicht verlangen, und die Orchesterleistungen von Scholzens Orchesterklasse sind wahrhaft genußreich, viel besser als im
Museum.
Ich habe jetzt die Freude von Friedchens Besuch, die ihren armen
Mann wieder nach Andreasberg gebracht hat und nun den Umweg zu
uns machte. Als Du vorm Jahr in Hamburg warest, schrieb sie mir, ich möchte Dir doch ihre Betrübnis aussprechen, daß sie nicht mit auf der Adresse, die man Dir von seiten der Künstler überreicht, stand, aber sie wußte von nichts, weil sie in Andreasberg war, und als sie zurückkehrte, war die Adresse schon fertig ausgestellt. Ich vergaß es damals, Dir zu schreiben, jetzt erinnert sie mich wieder daran.
Neulich habe ich mit dem Landgrafen Deine 3. Sonate gespielt (ich
hatte es ihm längst schon versprochen) und hatte wirklich Freude an seiner Auffassung, versprach ihm nun, auch mal’ die anderen mit ihm zu spielen.
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Du weißt wohl, daß Herzogenbergs ihr Haus in Berchtesgaden verkauft
haben – wie tun sie mir leid, nachdem sie es mit so vieler Liebe
gebaut, haben sie es kaum ein Jahr ungetrübt genossen.
In Bonn habe ich abgeschrieben aus Gründen, die Du so ohngefähr
weißt, oder errätst. Ich gehe auch nicht hin, kann so viel Musik, von der ich den größten Teil nicht höre, nicht mehr aushalten. Joachim will uns hier 1–2 Tage besuchen – so habe ich denn doch eine Freude.
Leb’ wohl, liebster Johannes, habe Dank für die Sendung der Bücher,
und laß mich bald von Dir hören, jedenfalls, wenn Du nach Ischl gehst – bei uns wird es das Gewöhnliche werden, Franzensbad Juli, Obersalzberg August.
Von Herzen
Deine alte
Clara.
Ich leide noch immer an den Folgen der Influenza.
Die Kinder sind nicht zufrieden mit dem „Kuvert“, wollen mit ihren
herzlichsten Wünschen angenommen sein, auch Friedchen.

[Umschlag]
Herrn
Dr Johannes Brahms.
Wien IV
4 Karlsgasse.

  Absender: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Absendeort: Frankfurt am Main
  Empfänger: Brahms, Johannes (246)
Empfangsort: Wien
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 3
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Johannes Brahms und seinen Eltern / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Thomas Synofzik / Dohr / Erschienen: 2022
ISBN: 978-3-86846-014-8
1948-1952

  Standort/Quelle:*) Umschlag: A-Wst: 55746,23b
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



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