23.01.2024

Briefe



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ID: 23309
Geschrieben am: Dienstag 15.12.1885
 

Frankfurt a/M., den 15. Dezember 1885.
Lieber Johannes,
da soll ich nun diktieren und habe das Herz voll zum Überfließen über Deine Symphonie.
Eine schöne Stunde hat sie mir geschaffen und mich ganz gefangen genommen durch Farbenreichtum und ihre Schönheit sonst. Kaum weiß ich, welchem Satz ich den Vorzug geben soll: dem ersten träumerischen mit seiner herrlichen Durchführung und den wunderbaren Ruhepunkten, dabei der sanft wogenden inneren Bewegung – (es ist, als läge man im Frühling unter blühenden Bäumen, und Freude und Leid zöge durchs Gemüt) oder den letzten so großartig aufgebauten mit seiner ungeheuren Mannigfaltigkeit, und trotz der vielen großen Arbeit so voll tiefer Leidenschaft, die in der Mitte so wunderbar besänftigt, dann aber wieder mit neuer Gewalt auftritt! Sie liegt schon im Hauptmotiv (Thema kann man es wohl nicht nennen). Dann wieder, wie träumt man in dem romantischen Adagio, sogar der dritte Satz ist mir jetzt lieber geworden durch seine reizvolle Lustigkeit. – Könnte ich mit Dir darüber sprechen, die Partitur vor uns! –
Soll ich etwas nennen, was mir nicht ganz behagt, so ist es im ersten Satz das zweite Motiv, das so eigensinnig und so gar nicht sich anschmiegend an das Vorhergehende, während sonst doch gerade bei Dir immer eines aus dem andern sich so wunderbar schön entfaltet. Es ist, als ob Du plötzlich bereutest, sehr liebenswürdig gewesen zu sein. Abgesehen von der Starrheit des Motivs erscheint es mir auch nicht nobel. Im Scherzo ist mir jedesmal eine Länge aufgefallen, auch im Adagio in der Durchführung.
Himmlisch geradezu deucht mir in letzterem der Schluß auf dem übermäßigen Sextakkord, der uns dann so wunderbar durch die aufgelösten Sextakkorde nach E dur führt. Ich möchte nicht aufhören und muß es doch – wesentlich erleichtert durch den Gedanken, daß mir noch diesen Winter die Freude werden soll, die Symphonie wieder zu hören und Dir mündlich noch so manches darüber zu sagen. Kwast und Uzielli haben sie mir so schön zusammen studiert vorgespielt, daß ich einen vollkommenen Genuß hatte. Scholz und Knorr waren dabei und behaupteten, jetzt sei ihnen vieles ganz klar, was es vorher noch nicht war.
Ich denke, Du hast wohl nichts dagegen, wenn ich die Symphonie Kwast einen Tag leihe, um sie Beckerath in W. vorzuspielen. Du läßt sie mir hoffentlich noch ein wenig. Vielleicht kann ich sie mir noch einmal vorspielen lassen – selbst zu spielen, daran kann ich leider nicht denken.
Wie mich das freut, daß Dir die Briefe behagen. In denen an mich mußten wir schließlich doch subtiler sein, als ich erst geglaubt.
Neues gibt es nichts von hier zu erzählen, höchstens daß ich neulich die phänomenale Symphonie von Bruckner gehört und mich wahrhaft erleichtert fühle, daß ich nun weiß, woran ich bin. Das ist ja ein greuliches Stück, nichts wie Fetzen aneinander gereiht und viel Bombast; dazu nun noch von unverschämter Länge. Die Aufnahme war ein Durchfall. Die Wagner-Anhänger, die ja auch Bruckners sind, sagten, Müller habe sie absichtlich zugrunde gerichtet. Das ist abscheulich, denn jeder Unparteiische mußte sich wundern, mit welcher Geduld er sie einstudiert, und wie gut sie ging. Er hatte auch eine dreistündige Extraprobe dazu gehalten. In demselben Konzerte gab es noch einen Durchfall, der wohl unerhört war, und zwar passierte er dem Pianisten Friedheim, der ausgezischt und ausgelacht wurde. Ich hörte Symphonie und ihn nur in der Probe, hatte von dem enormen Techniker gehört, und nun fing er das Es dur-Konzert von Beethoven an wie ein Schuljunge, der es zum erstenmal spielt. Ich habe so etwas im Konzertsaal noch nie erlebt.
Herzogenbergs sind heute in Leipzig zu seiner Symphonie, möchte sie doch eine gute Aufnahme finden! Nun habe ich viel geplaudert, meines Sekretärs Geduld auf die Probe gestellt, hoffentlich nicht auch die Deine.
Leb’ wohl, lieber Johannes, und hab’ nochmals Dank, daß Du mir den tieferen Einblick in die Symphonie verschafft hast. –
Wie immer
Deine alte
Clara.

  Absender: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Absendeort: Frankfurt am Main
  Empfänger: Brahms, Johannes (246)
Empfangsort: Wien
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 3
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Johannes Brahms und seinen Eltern / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Thomas Synofzik / Dohr / Erschienen: 2022
ISBN: 978-3-86846-014-8
1733-1736

  Standort/Quelle:*)
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



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