23.01.2024

Briefe



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ID: 23257
Geschrieben am: Donnerstag 20.05.1880
 

Düsseldorf, den 20. Mai 1880.
Lieber Johannes,
ich benutze eine freie Viertelstunde (endlich), um Dir einige Worte zu senden. Das Fest ist vorüber, und doch viel besser abgelaufen, als ich fürchtete. Einiges, z. B. Israel, war sehr schön, dann ging ganz herrlich die Symphonie von Mendelssohn. Ich habe Hiller nie so frisch dirigieren sehen wie dieses Mal – ich glaube, er hat all seine Kraft zusammengenommen – um zu zeigen, daß er dirigieren kann. Merkwürdig hat er alles ausgehalten, noch jeden Abend bis in die Nacht hinein geschwärmt. Das Schicksalslied konnte bei den wenigen Proben natürlich nur mittelmäßig gehen, und dennoch habe ich eine halbe Wonnestunde dabei verlebt. Einen Skandal hätte es beinah gegeben durch die Arie aus Traviata, das war wahrhaft entsetzlich, als nach Beethoven und Händel dieser Gassenhauer begann! Es wurde gelacht, gezischt, schließlich aber besiegte die Sembrich doch mit ihrer Bravour die Opposition, so daß es wenigstens schließlich noch mit Hervorruf abging. Sie selbst war naiv genug, die Arie wiederholen zu wollen, aber Hiller gab es nicht zu, wie überhaupt keine Da capos, was ich sehr vernünftig fand. Das Konzert dauerte ohnehin fast 4 Stunden mit der Pause. Ich fand am 2. Tag eine herrliche Aufnahme, war auch sehr animiert. So weiß ich Dir denn eigentlich nichts weiter zu erzählen. Sehr wohltuend empfand ich, daß am 3. Tage das sonst übliche sinnlose Blumenwerfen ganz unterblieb, und es wäre das ganze Fest würdig verflossen, wenn nicht die Traviata und das Verdische Ave Maria gewesen wäre, womit die Sembrich ein förmliches Fiasko (mit dem Ave Maria nämlich) machte, es wurde kaum möglich, daß sie noch einmal erschien. Natürlich blieb das große Souper zuletzt nicht aus, an dessen Folgen (ich war bis 2 Uhr da) ich heute erst recht laboriere, indem ich mich ganz matt fühle. Grimm war wieder da, obgleich er sehr krank gewesen war – ihn und Barth sah ich am öftersten, wir reisten auch zusammen hierher, nachdem ich mit letzterem Deine Sonate gespielt hatte, die er ganz reizend spielt. Heute kommt Joachim zu Bendemanns, wo wir sie auch spielen werden. Bis Mitte nächster Woche denke ich wieder in Frankfurt zu sein, sehne mich nach meiner gewohnten Tätigkeit.
Hast Du Dir Ischl ’mal angesehen? Wir haben uns nun für St. Ulrich entschieden, natürlich erst für Juli. –
Würden wir nur erst ’mal den Nordwind los!
Für heute adieu – ich wurde alle Augenblicke unterbrochen, daher ich mich so oft verschrieben habe.
Laß bald von Dir hören.
Deine
alte
Clara.

  Absender: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Absendeort: Düsseldorf
  Empfänger: Brahms, Johannes (246)
Empfangsort: Wien
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 3
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Johannes Brahms und seinen Eltern / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Thomas Synofzik / Dohr / Erschienen: 2022
ISBN: 978-3-86846-014-8
1570ff.

  Standort/Quelle:*)
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



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