23.01.2024

Briefe



Rückwärts
	
ID: 23159
Geschrieben am: Samstag 15.07.1871
 

St. Moritz, den 15. Juli 1871.
Lieber Johannes,
nachdem ich mich eines guten Teiles Briefschulden entledigt, nehme ich mir heute eine Muße- und Plauderstunde mit Dir, vor allem Dir einen schönen Gruß von hier zu senden, den Du zwar nicht verlangt, vielleicht aber doch erwartest!? – Da wären wir denn wieder in St. Moritz, aber denke nur, ich wäre am liebsten gleich am anderen Morgen abgereist! Es ist doch eine gar zu sterile Natur hier, eine Größe ohne die Erquickung, die einem das Berner Oberland bietet. Es fehlt so ganz das Herzerfreuende einer frischen blühenden Vegetation; die nackten, mit Schnee bedeckten Felsen, darunter die kümmerlichen Tannen, denen man so gar keine Lebensfreude ansieht, sind trostlos. Die Seen haben allerdings die herrliche grüne und blaue Farbe, aber tot sind sie – man hat so das Gefühl, als ob kein Fischchen darin schwämme. Nun, wir müssen aber doch aushalten, denn die Luft ist herrlich und läßt einen Sonnenbrand nie übermäßig empfinden. Leider habe ich das Mißgeschick, schon seitdem ich hier bin, gar wenig gehen zu können, wie mir scheint, infolge einer starken Reibung des Fußes am Schuh, dazu hat Eugenie, die hier so prächtig laufen konnte, sich den Fuß übersprungen und ist nun auch für mehrere Tage ans Zimmer gebunden – das nennt man Pech haben! In ein paar Tagen werden wir uns aber, hoffe ich, auskuriert haben.
Hast Du jemals die Tour von Zürich nach Chur gemacht? Das, meine ich, sei die schönste, die ich noch auf der Eisenbahn gemacht! Da ist der Verein von Großartigkeit und Lieblichkeit zugleich, wie man ihn sich wohltuender und erhebender kaum denken kann. In Ragatz ließ ich Marie, Felix und Eugenie aussteigen und sich Pfeffers ansehen; Elise und ich fuhren voraus nach dem wunderschönen Chur. Von da hierher reisten wir per Extrapost im offenen Wagen. Herrlich hatte ich mir das gedacht, und wie schrecklich war es; einer der fürchterlichsten Reisetage, die ich noch je durchgemacht, den ganzen Tag den glühendsten Sonnenbrand auf unsern Köpfen, wogegen alle Schirme nicht schützten, und eingehüllt in eine fortlaufende Staubwolke; ich kam so elend hier an, daß ich ernstlich eine Krankheit fürchtete, die Nacht machte aber alles wieder gut. Es geht mir darin wie den kleinen Kindern, die Nachtruhe stellt mich gewöhnlich von solchen Attacken wieder her. Was sagst Du dazu, während ich hier schreibe, bummeln Marie und Felix wohl in Mailand umher und kommen hoffentlich heute abend zu Julie. Es kam merkwürdig schnell der Entschluß – ich hatte vorher nie daran gedacht. Marie, die sonst nie für sich einen Wunsch hat oder vielmehr ihn nicht äußert, wenn er mir pekuniäre Opfer kostet, träumte hier Tag und Nacht vom Comer-See (ihr machte auch hier die Natur denselben trostlosen Eindruck wie mir), sprach immer davon, wie herrlich solch ein Abstecher sein müsse, und kurz und gut, ich erlaubte es ihr und Felix. Bei näherer Besichtigung der Entfernungen stellte es sich heraus, daß Mailand so nahe von Como, daß man dies doch sehen müsse, ferner, daß, in Mailand gewesen und nicht nach Turin gegangen sein, doch unglaublich sein würde, kurz, es wurde an Julchen telegraphiert, und heute wird ihr die Freude, nach fast zwei Jahren ihre Geschwister zu umarmen. Du kannst Dir denken, wie froh, aber auch sehnsuchtsvoll mich der Gedanke daran macht. Ich war am Abend vor Mariens Abreise entschlossen, mitzugehen, aber in der Nacht kamen mir die Bedenken, daß Julien mein Besuch, so ganz unvorbereitet, vielleicht so aufregen könnte, daß es ihr einen Schaden, gerade jetzt, bringen könnte, den ich nicht verantworten konnte, und so opferte ich ihrem Wohle meinen Herzenswunsch, wie es ja im ganzen Leben so oft den Eltern zur Pflicht gemacht ist! –
Ich bin begierig zu hören, wie Ihr die Zeit verlebt? War Rheinthaler recht vergnügt? Ist er noch da, so grüße ihn. – Wie bist Du mit Deinen Pflegebefohlenen zufrieden? Hat Miß May ihre Schüchternheit etwas überwunden? An Fleiß lassen es die beiden gewiß nicht fehlen. . . Wie es mit der kleinen Janotha ist, weiß ich noch nicht recht. Sie ist noch zu kindisch in ihrem musikalischen Empfinden, so daß ich einstweilen mehr das, was sie gut macht, einem besonderen Geschicke zuschreiben möchte.
Machst Du mir bald die Freude eines Briefes? Tue es lieber Johannes. Grüße Janotha und May (ich schreibe ihnen nächstens ’mal).
. . . . . . So denn Adieu und die herzlichsten Grüße von
Deiner alten
Clara.

  Absender: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Absendeort: St. Moritz
  Empfänger: Brahms, Johannes (246)
Empfangsort: Baden-Baden
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 3
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Johannes Brahms und seinen Eltern / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Thomas Synofzik / Dohr / Erschienen: 2022
ISBN: 978-3-86846-014-8
1186ff.

  Standort/Quelle:*)
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



Wir verwenden Cookies, um Ihnen den bestmöglichen Service zu gewährleisten (Mehr Informationen).
Wenn Sie auf unserer Seite weitersurfen, stimmen Sie bitte der Cookie-Nutzung zu. Ich stimme zu.