23.01.2024

Briefe



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ID: 23140
Geschrieben am: Dienstag 28.06.1870
 

Baden, den 28. Juni 1870.
Lieber Johannes,
eigentlich möchte ich beginnen mit Räsonnement über diese Wiener Geschichte, daß sie so zur Unzeit kommt und Dich mir entzieht, aber ich hab’ Dich doch zu lieb, als daß hier nicht der eigne Wunsch in den Hintergrund träte. Du siehst, ich habe alle Lust, zuzureden. Du hast so lange nach einer derartigen Stellung verlangt, nun bietet sich eine, bei welcher Dir doch die schönsten Mittel zu Gebote stehen, in einer der größten Städte Deutschlands (in einer kleinen Stadt Dich mit mittelmäßigen Kräften abzuquälen, das würde Dich sehr verdrießlich machen und hieltest Du gar nicht aus) mit anständigem Honorar, dafür keine zu anhaltenden Anstrengungen, den ganzen Sommer Ferien (das ist auch nicht übel, z. B. für Baden) – und das wolltest Du ausschlagen? Du hast wahrhaftig nichts zu fürchten, wie Du dirigieren kannst, hast Du zu mehreren Malen glänzend bewiesen, dabei Dein Überblick, der alles übersieht, wie keiner es Dir gleich tun kann! – Mir scheint nur eines in Frage zu kommen, das ist, ob Du die eigentliche Schulmeisterei, das detaillierte Einstudieren fertig bringst, was für Dich insofern schwer sein wird, als Dir, dem Künstler, der Du bist, solches Treiben doch im Grunde zuwider ist, dann als Mensch es Dir nicht gegeben ist, zu jeder Minute, oder vielmehr gerade dann, wenn es verlangt wird, mitteilsam zu sein. Sollte ein fester Wille aber diese Hindernisse nicht besiegen können? Es wäre doch so schön, nähmest Du an in der Zuversicht, den Platz zu behaupten. Nur möchte ich Dich auf eines aufmerksam machen, woran Du möglicherweise nicht denkst: laß Dir nichts von den Geschäften, Schreibereien, Engagements etc. aufbürden. Gibst Du darin im Anfang nur etwas nach, so bürdet man Dir schließlich alles auf, und Du verbrauchst Deine Zeit zu den unerquicklichsten Dingen. Ich sehe jetzt diesen Übelstand wieder recht bei Joachim, der sich nicht zu retten weiß vor allerlei Geschäften der allerprosaischsten Art. Wozu sind die Komitees? Die sollen das tun, und Du verpflichtest Dich nur zu dem künstlerischen Teil – da gibt es auch schon im Winter genug zu tun, denn viele Arbeiten hängen da ja auch noch daran, an die man vorher nicht denkt. Ich bin sehr gespannt, wie es wird – herrlich wäre es, spielte ich beim Beethoven-Fest unter Deiner Leitung!!! – Lieberes könnte mir nicht kommen. – Bitte, laß mich keinen Augenblick länger in Ungewißheit als nötig, Du kannst ja denken, wie mich die Sache tigt. Ich kann Dir gar wenig von hier sagen, Du weißt, welchen Kummer wir haben, und dieser wird nur genährt durch die traurigsten Nachrichten, die wir, zuletzt durch Ferdinand, der den Ludwig besuchte, hatten. Ich will Dir keine Beschreibung seines Zustandes machen, er ist aber so furchtbar, daß man nur den Himmel bitten muß, den armen Menschen zu erlösen. Wir denken viel daran, ob eines hingehen sollte, aber es ist eine so große Reise für die kurze Zeit, die es den Ludwig vielleicht erfreut! Er hat einen Augenblick geweint, als er den Ferdinand sah, dann aber verfiel er sehr bald in seine Phantasien, zwischen denen er aber immer ausrief: „Ich bin ein verlorener Mensch!“ Es ist fürchterlich, und Du kannst Dir wohl denken, wie des Nachts oft der Kummer mich übermannt. Am Tage gelingt es mir, durch Arbeit und im Zusammensein mit den Kindern denselben zurückzudrängen. Dächte ich nur im geringsten, etwas nützen zu können, ich ginge gewiß hin, aber ich weiß ja, wie es mit solchen Kranken ist. – In 14 Tagen erwarte ich Felix, der mir in dieser Zeit durch seine Briefe, die eine merkwürdige Gemütsreife zeigen, oft recht tröstend und erquickend zur Seite stand. Wenn er wieder fortgeht (Anfang August), dann wollen wir nach St. Moritz, wo ich bereits Wohnung bestellt. Weißt Du wohl, daß das eine wundervolle Reise von Wien aus ist! Es geht, glaube ich, über den Brenner – Wittgensteins haben sie ja gemacht. Am Ende bekämest Du Lust?
Zu Julie reise ich dies Jahr keinesfalls, es wäre nicht vernünftig, suchte ich mir zu solch ’nem Besuche eine Zeit aus, wo Julie der größten Ruhe und Schonung bedarf, wo sie wochenlang an das Zimmer gebannt ist, und wo ich sie mehr beunruhigen würde, als ihr gut wäre. Elise geht in 14 Tagen hin. . . . .
Von Karlsruhe höre ich nichts, Allgeyer sah ich nicht, alles sonst ist fort.
Ich hatte mir Dich schon in München bei der Walküre und in Oberammergau gedacht. Schmitt aus Schwerin ist mit einigen Musikern dahin.
Jetzt leb’ wohl, liebster Johannes. In größter Erwartung der Dinge, die da kommen werden,
Deine alte treue
Clara.
M. und E. grüßen schönstens.
Frl. Leser kommt dies Jahr nicht – sie muß ausziehen und hat noch kein Logis.

  Absender: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Absendeort: Baden-Baden
  Empfänger: Brahms, Johannes (246)
Empfangsort: Wien
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 3
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Johannes Brahms und seinen Eltern / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Thomas Synofzik / Dohr / Erschienen: 2022
ISBN: 978-3-86846-014-8
1159-1162

  Standort/Quelle:*)
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



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