23.01.2024

Briefe



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ID: 22555
Geschrieben am: Sonntag 12.08.1855
 

Sonntag
Meine geliebte Freundin,
den ganzen Tag habe ich nun fleißig gespielt u. gelesen und immerfort an Sie gedacht nun will ichs Ihnen aber auch in aller Ruhe erzählen. Ich denke immer an Sie, lange habe ich an Niemand so freundlich u. <langedacht [?]> ohne Aufhören gedacht. Heute hoffe ich nun von Früh an für den Abend auf einen Brief von Ihnen der mir recht Liebes aus Hamburg erzählt, ich sehne mich danach.
|2| Mein geschwollner Mund ist dicker geworden, Heute Früh hatte ich immer eine Feige im Mund u. Wolle umgebunden, da es zum Mittag jedoch noch dicker <geword> war, so ließ ichs aus Trotz, es ist auch eine zu arge Plage, so dick verbunden herum zu schleichen.
Frl. v. Meysenbug hat mir einen Brief geschrieben, dick überzuckert, ich werde ihr hochverehrter genialischer Meister!
Was die Leute gleich einen Begriff haben, wenn ein junger Mensch etwas Besonderes schreibt!
|3| Wie mancher Jüngling wünscht sich wohl Adlerflügel u. bildet sie sich auch wohl ein, geräth er hernach in die Bücher u. Noten dann klebt er gleich am Staub fest u. vergißt das Fliegen. Ich fürchte das doch zum Glück nicht häufig von mir, aber oft machts mich traurig, daß ich gar nicht mehr weiß wie man componirt, wie man schafft.
Ich wünschte, diese Zeit wäre bald vorüber u. ich wäre freier u. muthiger, ich könnte krank werden vor Sehnsucht nach einem neuen, frischen Ton.
Denken Sie, bisweilen glaube ich ganz fest, daß ich recht krank würde |4| u. dann doppelt gesund!
Wieder manchmal, ich sei kränklich gewesen u. jetzt am Genesen.
Wie unglücklich wär ich vielleicht wenn ich Sie nicht hätte! An Ihnen lerne ich immerfort daß ┌man┐ Lebenskraft (= lebenskräftiges Schaffen) nicht aus Bücher [sic] holen kann, sondern nur aus der eignen Seele. Man muß nicht herein sondern hinaus empfinden.
Sie müssen immer bei mir bleiben als mein guter Engel, dann wird gewiß aus mir, was werden soll u. kann.
Ich lese mein Geschwätz nicht wieder durch, verzeihen Sie’s u. lassen Sie Sich recht herzlich umarmen
von Ihrem
Johannes.
Die Kinder sind alle wohl, Bertha sehr tiefsinnig und mein neuer Schüler bis jetzt ein Kind.

  Absender: Brahms, Johannes (246)
  Absendeort: Düsseldorf
  Empfänger: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
Empfangsort: Düsternbrook
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 3
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Johannes Brahms und seinen Eltern / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Thomas Synofzik / Dohr / Erschienen: 2022
ISBN: 978-3-86846-014-8
376ff.

  Standort/Quelle:*) D-B: Mus. Nachl. K. Schumann 7,54
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



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