Hamburg Sonntag 21ter Oct 54.
Verehrteste Frau,
Sie sollen nur dies eine Mal über meine Langsamkeit im Briefschreiben zu klagen haben u. grade dieses Mal verzeihen Sie auch wohl leichter?
Ich reiste erst Donnerstag Mittag von Hannover, wir verlebten noch schöne Tage dort, in der Dämmerstunde lag J. u. Gr. auf dem Sofa u. ich spielte im Nebenzimmer.
|2| Während der Fahrt nach Hamburg dachte ich mehr an Sie als a. d. Eltern, zumal <grad> als ich in H. einfuhr, denn Sie mußten grade zum 2ten mal spielen. Meinen Vater fand ich schon am Omnibus, es waren die Lieder von Härtel mir aus Ddf. nach H. geschickt, weshalb mich die Eltern bestimmt erwarteten. Ich fand sie wohl, auch die Schwester, sie Alle empfehlen sich auf herzlichste Ihrer Liebe.
Schon früh am Freitag wurde ich durch Ihren theuren Brief erfreut, |3| er war der schönste Willkomm in H.. Auch meine Lehrer fand ich wohl, beide ließ ich erst fragen, wer wohl gekommen sei u. beide riethen „Unser Johannes“!
Hr. Marxsen erfreute ich recht durch die Balladen, auch die Variat. mußte ich ihm spielen.
Wie mich Ihr Brief unbeschreiblich beruhigte! Ich fürchte <mich> jetzt gar nicht mehr für Sie, aber wie schrecklich, daß Sie so lange auf Nachricht von dem Theuren warten müssen.
|4| Nun, bis Weihnacht wird die Zeit schon vergehen, dann bleiben wir doch wohl wieder zusammen in Ddf?
Oder reisen Sie noch mal, doch, das wissen wir jetzt noch nicht. Ich träume jedoch viel vom Winter, wie wir Beide ihn allein verleben oder herrlich u. in Freuden mit Ihrem geliebten Mann.
Wie gern erlebte ich meine Apotheose in Ihrem Concert, es ist mir wirklich zu viel der Ehre, wenn ich Sie ansehe beim Spielen, kommen mir meine Sachen geweiht vor.
|5| Ich war bei Hrn. Avé Lallemand, er verehrt Sie u. Ihren Hrn. Gemahl unendlich.
Er philosophirt so entsetzlich viel über Musik u. Musiker, sonderlich Wagner hat ihm jetzt viel Anlaß gegeben.
Sie wissen, ich liebe es durchaus nicht, Musiker u. ihre „Tendenzen“ zu besprechen, „zu analysiren“. Er meinte durch ein genaues Studium der Schriften u. Musik Wagners jetzt zu einem festen Urtheil über ihn gekommen zu |6| sein, doch durch jedes Wort, das ich wohl zwischen seine Reden warf, konnt ich ihn zum Umkehren bringen.
Hr. Avé lud mich ein für einen Abend (mit Hrn. Grädener) sagte aber nicht, wie Sie: wir wollen hübsch musiciren, sondern: „da wollen wir uns denn mal recht über Musik aussprechen.“ Ich werd’s wohl nicht lang aushalten u. dazwischenfahren mit einigen Cis, F. od. Fis moll Accorden.
Auch des Flügels wegen war ich aus, glaube aber, Ihnen rathen |7| zu dürfen, einen von Klems kommen zu lassen.
Rachals hat einen (jedoch nicht besondern) würde ihn jedoch nicht ins Hotel geben! Aechte Erard sind wohl hier, jedoch ist es immer unbestimmt ob sie nicht verkauft werden, auch ob <i>Ihnen die Spielart nicht zu schwer sein wird.
Heins u. Baumgardten, von denen ich Ihnen sprach, haben leider keinen Flügel, aber wiederum war ich entzückt über den herrlichen Ton <in> ihrer tafelförmigen Instr. Solchen gesangvollen Ton glaube ich immer nie gefunden zu haben.
|8| Meine früheren Bekannten sind mir noch widerlicher geworden, ich begreife mein früheres Leben nicht.
Seit ich diesen herrlichen Sommer mit Ihnen verlebte, wäre es mir unmöglich hier zu bleiben. Verzeihen Sie den Ausdruck: „herrlich“! Es war doch ein herrlicher Sommer für mich trotz seinem großen Ernst, er wird mir unvergeßlich sein. Vielleicht wird der Winter unendlich schöner, mindestens so gut muß er uns werden!
Leben Sie recht wohl, hochverehrte Frau u. behalten Sie lieb
Ihren
Johannes Brahms.
Meine Eltern lassen Sie recht innig grüßen.
(das kleine Siegel (J.) auf Ihrem Brief ist mir freudig aufgefallen.[)]