23.01.2024

Briefe



Rückwärts
	
ID: 20995
Geschrieben am: Mittwoch 15.06.1892
 

Interlaken d. 15 Juni 1892

Liebe Frau Fellinger

wie sehr stehe ich in Ihrer Schuld, und dachte ich doch so oft Ihrer Anhänglichkeit, Ihrer wahren, seltnen Freundschaft für mich! – Aber, Sie haben keinen Begriff, was ich seit vorigen Herbst durchlebt und gekämpft habe. Erst kam das Gehörs, oder vielmehr Kopfleiden, das ganz unbeschreiblich peinigend ist, oft mich zur Verzweiflung bringen könnte und ununterbrochen dauert, dann war ich den ganzen Winter sehr leidend im Kreuz, konnte |2| kaum mehr als 20 Minuten gehen, (und so ist es noch jetzt) dann kam der Fall, der mich ganz herunterbrachte und die Lungenentzündung im Gefolge hatte, und dazu durch die Erschütterung des Falles ein Armleiden auch noch nach sich zog, das mir höchst hinderlich ist, denn das Schreiben verschlimmert stets die Schmerzen bis zur Heftigkeit. Dennoch schreibe ich, ab und zu, selbst, denn das Dictiren wird mir, an Freunde, gar so schwer, <weil ich da nicht so> was Sie gewiß begreifen. – So kam ich denn doch bis Mai |3| soweit, daß ich nach Locarno reisen konnte, wo ich Eugenie fand, die 3 Wochen vor mir schon hingereist war. Sie war sehr krank, Blutarmuth, die die entsetzlichsten Anfälle von Athemsnoth mit sich brachte. Ich fand sie in Locarno besser, aber leider kamen die heftigsten Anfälle erst dort, und wir mußten einen Arzt (z. Glück fanden wir einen guten) nehmen, der erklärte, sie müsse den Sommer im Süden zubringen, und in aller Ruhe, jede kleinste Aufregung müsse ihr erspart bleiben. Sie wurde besser konnte das Bett verlassen, aber, ich mußte sie auch verlassen, weil sie sich fortwährend meinetwegen |4| beunruhigte. Ich war nämlich nur mit einem Mädchen hingereist, da Marie, wegen der Schule, und der Uebernahme von Eugeniens Schülerinnen bis Juni, noch in Frkf. gefesselt war. So wußte mich Eug. eben viel allein, obgleich sie zu ihrer Pflege eine Freundin bei sich hatte, (die sie wie ein Engel pflegte und mit Liebe umgab) die dann auch oft mir Gesellschaft leistete, so viel es eben ging. Kurz, ich mußte Locarno verlassen, was mir entschieden für die Lunge zuträglich gewesen war, und ging nach Basel zu lieben Freunden, aber mit blutendem Herzen, verließ ich das kranke Kind! Vom Anfang |5| Juni an ist nun Marie bei mir, und da bin ich denn geborgen. Wir sind bis 1 July hier, u. wollen dann auf den Brünig, 3 Stunden von hier, wo es sehr schön sein soll, und was nicht zu hoch für mich ist. Meinen Aufenthalt bei der Moritz mußte ich aufgeben, es war dort zu feucht. Das wird mir nun furchtbar schwer, denn so angenehm, wie ich dort lebte, finde ich es nirgends, ich hatte Ruhe, und doch auch Verkehr mit lieben Menschen, den ich brauche. Hier sind wir ganz auf uns allein angewiesen, kennen Niemanden, und leider habe ich gar kein Talent |6| Bekanntschaft zu machen, woran auch meine Schwerhörigkeit viel Schuld hat. Im Septbr. gehen wir vielleicht noch einmal nach Locarno was mich entzückt hat. Ich habe Ihnen Alles so ausführlich erzählt, liebe Frau Fellinger, weil ich Ihre Theilname kenne, u. Ihren lieben Briefen doch immer entnahm, wie wenig Sie Genaueres von mir wußten. An Brahms schreibe ich doch natürlich nicht über meinen Gesundheitzustand – Männer hören nicht gern solche Klagen, was ja natürlich ist; überhaupt aber, wie sehr |7| muß man sich hüten, nicht zu viel zu klagen, im allgemeinen habe ich gefunden, jemehr man klagt, desto weniger Theilname man findet. Sie werden vielleicht aus eigner Erfahrung <die> wissen, wie Recht ich habe.
Gott sei Dank sah ich aus Ihrem letzten Briefe daß es Ihnen doch recht leidlich geht, und freue mich, daß Sie in diesem Winter so Vieles Musikalische mit erleben durften. Vor allem konnten Sie die neuen Werke von Brahms hören, was mir durchaus versagt war, da ich alles falsch höre. Das war mir eine schwere Prüfung – doch, keine |8| Klagen weiter, es war schon genug. Sie wissen, wir haben unsere Stellung am Conservatoir aufgegeben, und meine Töchter werden vom Octbr an eine Privat-Klasse haben, da alle Schüler von der Schule sie baten, bei ihnen fortstudieren zu können. Ich gebe dann hie und da Unterricht, wo es meine Gesundheit erlaubt. Brahms schreibt mir von dem enormen Aufschwung, den Ihres Mannes Geschäft genommen – bitte, geben Sie mir doch einmal einige Details darüber, das würde mich sehr interressiren. Wie erfreut haben mich Ihre Nachrichten von den theueren Söhnen – wie wachsen sie heran Ihnen zur Freude!
So leben Sie denn wohl, möge der Sommer Ihre Gesundheit recht befestigen. Grüße an Ihre Lieben Alle von Ihrer Ihnen treu ergebenen
Clara Schumann.

Marie grüßt herzlich.
◊4Lesen Sie mit Nachsicht, das Dröhnen im Kopfe stört mich so sehr beim Schreiben.
Besonderen Händedruck für den Gruß zum 8ten.
Bargiels haben sich gewiß sehr Ihrer Anwesenheit i. Berlin gefreut!

  Absender: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Absendeort: Interlaken
  Empfänger: Fellinger, Maria (443)
  Empfangsort:
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 4
Briefwechsel Clara Schumanns mit Maria und Richard Fellinger, Anna Franz geb. Wittgenstein, Max Kalbeck und anderen Korrespondenten in Österreich / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Klaus Martin Kopitz, Anselm Eber und Thomas Synofzik / Dohr / Erschienen: 2020
ISBN: 978-3-86846-015-5
286-289

  Standort/Quelle:*) D-Zsch, s: 11791-A2
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



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