23.01.2024

Briefe



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ID: 19814
Geschrieben am: Sonntag 20.06.1869
 

Wien, 20. Juni 1869.
Verehrte Frau.
Bald hört der Kapellmeister auf und der Mensch fängt an. Ich habe das Herumpacken allmählig satt und denke schon in 8 Tagen die Schweizerberge zu begrüßen. Wie steht es denn mit Ihren Projecten? Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, die Reise zusammen mit Ihnen zu machen, aber ich fürchte, Felix trägt den Sieg davon – und das kann ich Ihnen freilich nicht verdenken, nachdem ich den Jungen selbst gesprochen. Am Ende giebt es aber noch den Ausweg, ihn mitzunehmen? Jedenfalls möchte ich Sie bitten, mir nach München („Bayrischer Hof)“, wohin ich in einigen Tagen kommen werde, ein paar Zeilen zu schreiben, ob und wann Sie nach St. Moritz zu gehen beabsichtigen. Ich denke gegen den 27ten in Landquart, einer Eisenbahnstation bei Chur zu sein, von da über Davos, Süs (täglich 100 Fuß steigend) nach Moritz zu gehen. Kommen Sie aber etwa erst 8 Tage später, so treibe ich mich vorher so lange irgendwo herum, und wir treffen uns dann an einem genau zu verabredenden Tage und Orte. – Felix wird Ihnen geschrieben haben, daß ich mehreremale mit ihm zusammen war. Ich habe ernste Freude an dem Kleinen (ja so – er ist größer, als ich – ) gehabt; es ist ein frischer, intelligenter, Junge und ich begreife sehr gut die besondere Zärtlichkeit, die Sie und seine Geschwister für ihn hegen, abgesehen davon, daß er der Jüngste ist und als solcher dem Schicksal des Verzogenwerdens ohnehin nicht entgehen kann. Aber gerade liebenswürdige, gutangelegte Naturen werden im Leben oft zu „problematischen“ (Sie kennen die Goethe’sche Erklärung dieses Wortes?), und Felix scheint mir ein solch angehender Problematiker zu sein. Herr Planer, mit dem ich des Langen und Breiten über ihn gesprochen, hat mancherlei Bedenken, die ich Ihnen nicht vorenthalten will. Sie äußerten mir einmal, daß alle Ihre Kinder nicht zu überwindende Abneigung gegen die Leute, deren Pflege sie anvertraut sind, an den Tag gelegt hätten. Dies scheint denn auch bei F. der Fall zu sein. Herr Pl. sagte mir, daß er gänzlich ohne Einfluß auf F. sei. F. teile ihm nicht mit, was in ihm vorgehe, mit was er sich beschäftige, nichts, was seine Zukunft betreffe; es vergehe oft ein Vierteljahr, daß er bei Tisch nicht ein Wort spreche, er könne sich diese Verschlossenheit durch kein äußeres Vorkommniß erklären, da er F. von jeher mit der größten Schonung behandelt, ihn wissentlich nie verletzt habe, sondern er glaube, daß dieses trutzige Wesen sich nicht nur persönlich ihm (Planer) gegenüber äußere, sondern daß es, als in F.’s Charakter wurzelnd, energisch zu bekämpfen sei. Ich fragte F, ob er etwas gegen Pl. habe und erhielt zur Antwort, Herr Pl. behandle ihn noch immer wie ein Kind, das könne er nicht vertragen. Dieses Gefühl der Empörung gegen die Nicht-Anerkennung des keimenden Mannesbewusstseins kenne ich nun freilich aus meiner eigenen Jugend recht gut, und ich würde davon gar nicht sprechen, wenn mir Herr Pl. während einer stundenlangen Unterredung nicht den Eindruck eines so ernsthaften, zuverlässigen Mannes und Menschenkenners gemacht hätte, aus dessen Munde mir jedes Wort beachtenswerth erscheint, und wenn ich nicht seine Schilderung von Felix durch eigene Anschauung bestätigt gefunden hätte. Er sagte mir ferner, es sei ihm bis jetzt noch nicht gelungen, eine Neigung zu einem bestimmten Berufe in F. zu entdecken; er fange Mancherlei mit Entschiedenheit an, bleibe aber nicht dabei; eine Zeit lang habe er eifrig Käfer und Schmetterlinge gesammelt, er (Pl.) habe dies in der Hoffnung, ihn zu eingehenderem Studium der Naturwissenschaft anzuregen, lebhaft unterstützt, aber F. habe die Leidenschaft bald wieder aufgegeben. Nur die Musik mache ihm dauernd Vergnügen,ob aber seine Befähigung soweit reiche, dieselbe zum Berufe zu machen, könne er nicht beurtheilen. Ich veranlasste nun Felix, mit mir zu Joachim zu gehen, in der Absicht, im Verein mit diesem ein Urtheil über seine Begabung zu gewinnen.F. sträubte sich Anfangs – schon als Herr Planer ihm sagte, daß er mit mir viel über ihn gesprochen, hatten sich seine Lippen zu finsterem Ausdrucke zusammengezogen –, aber ich ließ nicht nach. Leider war nun Joachim sehr eilig. Eine gründliche Probe war es nicht; doch aber glauben wir aus dem Wenigen, was F. uns vorspielte, entnehmen zu können, daß er keine Aussicht hat, mehr als ein passabler Orchesterspieler zu werden. Auf meine Fragen, ob er denn besondere Vorliebe für irgend einen Beruf habe, sei es Musik oder was sonst, antwortete er stets ablehnend – er habe noch nicht darüber nachgedacht. Mit 15 Jahren sollte man aber über dergleichen nachdenken. Ich schreibe Ihnen das Alles, um Sie darauf aufmerksam zu machen, Felix nach dieser Richtung ein wenig zu Leibe zu gehen. Gerade, wenn keine ausgesprochene Neigung der Anlage zu einem Berufe vorhanden, müsste, meine ich, frühzeitig ein festes Ziel in’s Auge gefasst werden. Sie verzeihen schon dem Freunde diese Einmischung in interne Angelegenheiten?? Ferdinand habe ich leider nur einmal sehen können; ich hatte in Berlin sehr viel zu thun. Was sagen Sie denn zu Joachims neuer Unternehmung? Ich finde, nun wird Lichtenthal Nro.14 mit der Zeit doch veräußert werden müssen? Wenn Joachim und Stockhausen aushalten, was bei so großen Herren – zumal bei letzterem – immer fraglich ist, so kann etwas Herrliches daraus entstehen. – In Dresden war ich viel mit Rietz zusammen und war baß verwundert, in ihm einen Wagner-Enthusiasten zu finden, wie er mir heißblütiger kaum je vorgekommen ist. Wir Theaterkapellmeister sind eben Barbaren; wie ich über die Meistersinger denke, habe ich Ihnen noch gar nicht zu enthüllen gewagt. Ganz so schlimm wie Rietz bin ich indessen nicht. – In Prag habe ich 2 herrliche Tage gehabt; die Natur dort übt auf mich immer eine ungeheure Wirkung! Wie ich an einem
herrlichen Abende die Sonne von dem Hradschin aus scheiden sah, unter mir die ruhigfließende Moldau und die zahllosen Thürme, am Horizonte die wohlthuendsten, harmonischsten Linien und wie „durch’s Auge die Kühle sänftigend in’s Herz einzog“– das werde ich meine Tage nicht vergessen – – – Von hier aus gehe ich nach Salzburg, um Frau Joachim zu begrüssen, dann nach München, wo ich Tristan & Isolde zu hören hoffe(!) Von da direct in die Schweiz. Mir gehts umgekehrt, wie dem Sohne Isai’s , der ausging, einen Esel zu suchen und ein Korn fand. Ich bin ausgezogen, um Perlen zu fischen, und habe nicht einmal einen Gründling an meine Angel bekommen. Die Sänger heutzutage sind schlecht, aber theuer und arrogant. – Nun leben Sie wohl. Ich muß pflichtschuldigst in die Oper. Faust. Auf Wiedersehen in Chur. – Herzliche Grüße Ihrem ganzen Hause und Johannes.
Immer Ihr treu ergebener
Hermann Levi

Wenn Sie umgehend schreiben, trifft mich Ihr Brief in Salzburg, Erzherzog Karl. Sonst in München, Bayr. Hof. – Schreiben Sie mir auch, ob Brahms viel Notenpapier consumirt?
Räthsel für Frl. Julie:
Ôtez ma première lettre – je reste ce que je suis, ôtez ma seconde lettre, je reste ce que je suis, ôtez ma 3me et ma 4me lettre – je reste toujours ce que je suis. – Auflösung in nächster Nummer.

  Absender: Levi, Hermann (941)
  Absendeort:
  Empfänger: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Empfangsort:
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 5
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Franz Brendel, Hermann Levi, Franz Liszt, Richard Pohl und Richard Wagner / Editionsleitung: Thomas Synofzik, Michael Heinemann / Herausgeber: Thomas Synofzik, Axel Schröter und Klaus Döge / Köln: Verlag Dohr / Erschienen: 2014
ISBN: 978-3-86846-016-2
546-550

  Standort/Quelle:*) D-Zsch, s: 10623,31-A2
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



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