23.01.2024

Briefe



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ID: 19806
Geschrieben am: Mittwoch 02.10.1867
 

Verehrte Frau!
Anbei mit bestem Danke Schlüssel und Lied. Letzteres hat mich ganz traurig gemacht. Nach einer Pause von einem Jahre solch ein Lied zu schicken! Da ist auch nicht ein Takt, der mich warm anmuthete, wohl aber ganze Phrasen, die mir geradezu trivial erscheinen. Das ist nicht gesungen, das ist gemacht, das ist wie eine Lüge. Der Text ist ungefähr derselbe, wie im Des-Dur Lied: [„]Hier, ob dem Eingang“ – aber wie anders quillt dort die Melodie! Ich fürchte, Brahms der Mensch und der Künstler – steht an der Scheide zweier Wege, deren Einer zum Untergang führt. Gelingt es ihm nicht, sein besseres Selbst vor dem Dämon der Schroffheit, der Kälte, der – Herzlosigkeit – zu retten, so ist er für uns und für die Kunst verloren; denn nur die allbefruchtende Liebe schafft Kunstwerke. Wir, die wir uns
im gleichen unwandelbaren Glauben an seine hohe Begabung, in gleicher Liebe zu seinem hohen Wesen begegnen, dürfen uns am allerwenigsten verhehlen, in welcher Gefahr er schwebt. Und Sie, die Sie vielleicht noch allein Einfluß auf ihn haben, machen Sie denselben in schönster Weise geltend, lassen Sie kein Mittel zu seiner Rettung unversucht – suchen Sie den Menschen zu heben und durch ihn den Künstler! – Das sind so die Gedanken, die mir das Lied, zusammengehalten mit seinen Briefen erweckt, und die ich mir Ihnen gegenüber losschreiben musste, gleichviel ob Sie sie, wie so manchmal, überspannt finden und belächeln. Ich habe mich in sein Denken und Empfinden so hineingelebt, daß er ein Stück von mir geworden ist – und in diesem Sinne klingt mir das Lied wie ein Abschied, wie eine Todesanzeige. Wenn ich auch diese Illusion noch begraben haben werde, bin ich so nackt wie eine Kirchenmaus. – – –
Von ganzem Herzen Ihr
Hermann Levi.

  Absender: Levi, Hermann (941)
Absendeort: Karlsruhe
  Empfänger: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Empfangsort:
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 5
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Franz Brendel, Hermann Levi, Franz Liszt, Richard Pohl und Richard Wagner / Editionsleitung: Thomas Synofzik, Michael Heinemann / Herausgeber: Thomas Synofzik, Axel Schröter und Klaus Döge / Köln: Verlag Dohr / Erschienen: 2014
ISBN: 978-3-86846-016-2
519f.

  Standort/Quelle:*) D-B, s: Mus. Nachl. K. Schumann 2,226; Abschrift: D-Zsch, s: 10623,23-A2
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



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