Bern, d. 27. August 189<>4.
Hochverehrte Frau!
Auf meiner ganzen Walliser Reise trug ich die liebenswürdige Antwort bei mir, die Sie vor nun einem Monat an mich zu richten die Güte hatten. Und natürlich bestand der Vorsatz, Ihnen von irgend einer Reisestation aus zu danken. Aber gleich im Anfang der Reise zog ich mir durch das Verharren in Kleidern, die vom Regen |2| durchnäßt waren, eine ziemlich schwere Halsentzündung zu, an der ich im Badeort Leuk einige Tage liegen mußte. Nachher aber, in der Rekonvalescenz zu Siders und in St. Gin¬golph am Genfersee, befiel mich eine eigentliche Tintenscheu, die wahrscheinlich bei Federmenschen dasselbe ist was die Wasserscheu bei den armen Hunden. Dann, nach der Rückkehr in den Redaktionskäfig, gab es Zug um Zug viel rückständige Arbeit zu erledigen.
So ist es gekommen, daß ich Ihnen erst heute für Ihre lieben u. freundlichen Worte aus dem Châlet Sterchi danken kann, auch dafür, daß Sie meiner |3| Frau u. mir so liebenswürdig vorschlugen, mit Ihnen irgendwo am Thuner See zusammenzutreffen. Es war im Anfang der Reise nicht wohl ausführbar und zurück kamen wir über Vevey u. Freiburg. Ich will Ihnen übrigens zu Ende der Woche meine kleine Reisebeschreibung schicken, die eben jetzt im „Bund“ erscheint; vielleicht interessiert Sie doch der eine oder andere Hinweis auf hübsche Kurorte im Wallis u. am Genfer See.
Nach Interlaken werde ich schwerlich kommen können; es sind jetzt andere Herren unserer Redaktion auf Reisen u. wir haben auch oft Besuch.
Um so größer wäre unser Aller Freude, wenn Sie wieder auf Ihrer |4| Rückreise in Bern Station machen sollten u. wir Ihnen in irgend etwas dienen könnten. Über die Volkslieder von Brahms möchte ich Sie so gern reden hören; es ist mir nicht recht klar, wie weit sie alte Melodieen, wie weit Neuschöpfungen von ihm sind, letzteres jedenfalls in der Harmonisation. Sie müssen wissen, daß ich durchaus kein Musiker bin, sondern nur Freund u. Verehrer guter Musik. Leider muß ich über Musik manchmal schreiben u. wünsche oft, mein Urtheil <>stünde auf festeren Fundamenten. Da hat mir z. B. der <>┌alte┐ Musikschuldirektor Selmar Bagge in Basel zwei von ihm komponierte Lieder zugestellt, die mir sehr ledern vorkommen; aber ob ich mich nicht irre? Dabei sind es noch Lieder |5| zu Texten, die schon Beethoven u. Mendelssohn komponierten: „Ich denke Dein“ und „Ein Blick von Deinen Augen“. Gegenüber Beethoven thut sich Herr Bagge viel zu gut damit, daß er nun richtiger betont habe: „Ich denke Dein, … wo denkst Du mein?“ Es kommt mir aber fast pedantisch vor.
Doch will ich Ihre Augen nicht länger mit meinem Geschreibsel in Anspruch nehmen. Nur habe ich noch von meiner l. Frau und den Töchtern die allerherzlichsten Grüße |6| beizufügen, auch an Ihre Fräulein Töchter u. verbleibe
In inniger Verehrung
Ihr sehr ergebener
J. V. Widmann
Sollte Frl. Wendt, die ich in Kandersteg sah, noch bei Ihnen weilen, so darf ich wohl bitten, daß Sie ihr meine u. meiner Frau Empfehlungen bestellen.
|