Bern, 30. Juni 1893.
Verehrteste Frau!
Gleichzeitig mit diesen Zeilen sandte ich an Ihre Adresse meine sizilianische Reisebeschreibung u. bedaure nur, daß ich dieselbe für Sie nicht auf besseres Papier u. mit anständigeren Lettern konnte drucken lassen. Auch war ich fast in Zweifel, ob ich die Zeitungsnummern noch nach Frankfurt oder schon nach Interlaken schicken sollte. Jedenfalls werden Sie, denke ich, bald in die Schweiz reisen. Nun ist es zwar richtig, daß man, da jetzt |2| seit einigen Wochen eine Thunerseebahn besteht, in durchgehendem Wagen von Frankfurt bis Interlaken fahren kann (wenigstens wurde das in den Journalen behauptet). Wenn Sie aber vielleicht doch in Bern eine kleine Ruhepause machen wollen, so würden meine l. Frau u. ich uns unendlich freuen, Sie in unserm Häuschen (Zum Leuenberg N 26, in der Höhe überm Bärengraben) empfangen zu dürfen. Zwei Zimmer könnten wir zum Wohnen ganz gut zur Verfügung stellen. Ein Stückchen |3| Ihres ehemaligen Eigenthums ist längst in widerrechtlichem Besitz meiner Frau, nämlich ein Handschuh von Ihnen, den meine Frau vor etwa dreißig Jahren nach einem Ihrer Konzerte in der Schweiz eroberte (durch Kirchner, in Zürich). Aber selbstverständlicher Weise richten Sie Alles nur nach Ihrer Bequemlichkeit; wir sind nicht so unverständig, Ihre Reisestrapazen, auch in sonst bester Absicht, vermehren zu wollen. Je länger Sie in Interlaken dann bleiben, desto eher kann ich hoffen, Sie dort einmal zu besuchen; |4| im Monat Juli werde ich mich schwerlich auch zur kleinsten Reise entschließen können, da ich noch etwas ungeschickt gehe und an der täglichen Wanderung von meiner Wohnung bis in die Redaktion und zurück voraussichtlich gerade genug habe. Doch fühle ich mich im Übrigen durch die stille, nun bald zweimonatliche Abschließung in meinem Hause geistig u. körperlich erquickt und erfrischt wie nach einer Badekur.
In warmer herzlicher Verehrung
Ihr ergebener
J. V. Widmann
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