23.01.2024

Briefe



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ID: 19646
Geschrieben am: Samstag 11.06.1892
 

243 Boulevard St Germain
11 Juni. 92

Meine liebe liebe Clara,
Ist es nicht schändlich dass die zwei ältesten Freundinnen dieses Jahrhunderts so selten von einander hören? ich, meinerseits, schäme mich schrecklich, du musst auch dich schämen (etwas weniger jedoch als ich, denn du hast einen Brief weniger auf ’s Gewissen.). Du schämst dich, ich schäme mich, wir schämen uns; ein Kuss und wir sind quitt! Was soll ich dir von meinen |2–3| Kindern erzählen? … lass sehen…. Luise zu erst: Sie ist in London seit 10 Monate mit Frl. Lensmann. Sie componirt sehr viel und ihre Songs fangen an gesungen zu werden – sie hat ein Verleger, das ist schon Etwas. Sie hat eine Classe von Lyrischer Declamation bei der Royal Academy, glaube ich. – Ihre Gesundheit hat sich sehr verbessert. Frl. Lensmann giebt viele Gesangstunden und sie soll sie sehr gut geben. Kurzum, Louise ist im Ganzen sehr zufrieden in London. Claudie: Diese ist immer reizend in jeder Hinsicht – ihr Mann, Georges, ist der liebste Wesen den man denken kann. Claudie beschäftigt sich mit Pastel-Malerei. Sie hat mehrere Portraits in beiden Austellungen [sic] und sie will sich gänzlich dazu widmen. Meine Enkelinnen, ihre Töchter, sind sehr hübsch und gut. Jeanne wird bald 18, Marcelle 12 Jahr alt werden. Beide spielen Clavier, nett ohne grosse Anlagen. Der Junge, Raymond, ist ein merkwürdiges Kind, besonnen, klug u. dabei lebhaft. – Es ist die schönste Familie die man sehen kann. Marianne: |4| auch eine hübsche Frau, gescheit und amüsant. Ihre Gesundheit lässt manchmal viel zu wünschen – sie erkältet sich so leicht und hat bei kaltem Wetter gleich heftiges Husten – rheumatisch soll es sein, behaupten die Aerzte. Ihre Stimme ist reizend und sie singt wie man jetzt nicht mehr singt, d. h. perfect. Ihre kleine Susanne, ist ein schönes bald 9 jähriges Mädel, begabt, gescheut und lebhaft wie ein Mäuschen. Alphonse Duvernoy, mein Schwiegersohn ist einer der witzigsten Männer in Paris |5| (und das will Etwas sagen) u. dabei gut, treu u. talentvoll. Man hat Anfang des Winters eine 4 aktige Oper von ihm aufgeführt in Lüttich, mit grossem Beifall. Sie wird in Rouen nächstens gegeben werden – Nach u. nach wird er immer näher von Paris rücken, bis die Thüre von der Grossen Oper ihm aufgemacht <>ist. Meine beide Schwiegersohn sind des amours, und wir lieben uns grenzenlos, ja, ganz gewiß. |6| Pauline: Die ist immer rüstig und fast immer munter, hie u. da „au, au!“ die Knien. Aber das ist alles – sie giebt immer Stunden, <7 halbe> drei oder vier täglich, nicht mehr – sie hat sehr viel componirt – eine Pantomime mitunter, die mehrmals aufgeführt worden ist (Mit Marianne und Claudie als haupt mimen) Grandissime Succès – im nächsten Winter soll sie in Brüssel gegeben werden, au theâtre du Parc. Ich schicke anbei eine Photographie von Claudie u. Marianne im Costüm. Frau Pauline v. Guaita war bei mir – ich wusste nicht, dass unsere alte Fr. v. Guaita gestorben war. Ist dir die Hitze nicht |7| günstig? gewiss ist lauter Nervös was du leidest am Gehör aber wie schrecklich unangenehm! giebt es gute Aerzte in Frankfurt? Solltest du nicht nach Heidelberg reisen, um eine Grösse zu consultiren? Meine liebe gute Clara, was hast du nicht in deinem Leben gelitten!
und jetzt noch, immer Sorge und Trübsal! wie bedaure ich dich, Liebe, die Alles gute und Schöne verdient! – Wäre es dir möglich ein paar Musiktakte von Deinem Mann zu geben? es würde mich unendlich |8| freuen. Man hat uns neulich die Trojaner von Berlioz <gegeben> aufgeführt – wie langweilig und charakterlos ist mir das Werk vorgekommen! Altmodisch, die Ideen so schwach! die Nachahmung von Glück so frappant! nur Eins ist angenehm in dieser Oper, dass man jeden Ton, jede Sylbe hört und versteht. Die Sänger brauchen nicht zu schreien! – das ist Etwas. Na, jetzt, mein Clärchen, schliesse ich mit tausend Küssen von
Herzensgrund deiner alten treuen

Pauline

Grüße mir deine liebe Töchter.

  Absender: Viardot-Garcia, Pauline, geb. Garcia, Pauline (1623)
  Absendeort: Paris
  Empfänger: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Empfangsort:
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 7
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Jenny Lind-Goldschmidt, Wilhelmine Schröder-Devrient, Julius Stockhausen, Pauline Viardot-Garcia und anderen Sängern und Sängerinnen / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Jelena Josic, Thomas Synofzik, Anselm Eber und Carlos Lozano Fernandez / Dohr / Erschienen: 2023
ISBN: 978-3-86846-018-6
994 - 997

  Standort/Quelle:*) D-B, s: Mus. Nachl. K. Schumann 6,131
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



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