23.01.2024

Briefe



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ID: 19547
Geschrieben am: Samstag 06.08.1870
 

Cannstatt. 6. August 70.

Liebe Frau Schumann,
Nehmen Sie den besten Dank für die Bemerkungen über das Lied v. R. Genée, Sie sind so in die Einzelheiten eingegangen daß ich faßt fürchte Ihre kostbare Zeit zu sehr in Anspruch genommen zu haben. Das einzig Es-Dur durch as² (2 accord) so entschieden angedeutet, befremdet mich nach dem D-Dur noch. Wahrscheinlich ist mein Ohr nur zu sehr an die erste Lesart gewöhnt. Daß es Ihnen im Ganzen gut gefällt freut mich sehr. Was den Hahn betrifft so ist dieser Vogel das Sinnbild des Gallischen Volkes immer gewesen bis die Napoleons ihn zu gemein fanden und ihn mit dem Adler vertauschten. Sie fanden auch wohl daß der frühe Sänger die Beschlüsse ihrer per|3|fiden Politik verraten könne & wählten den stilleren aber um so raublustigeren Adler. Diese<n> Napoleons<ist>sind es denen der großartige krieg jetzt gilt, die perfide, lügnerische, raubsüchtige Politik ist es der man von Deutschland aus ein Ende machen will und darum darf & soll jeder Rheinländer mit einstimmen. Mein Vater, das vergessen Sie ja nicht, war aus Cöln, die Familie aus Rheinbreitbach bei Königswinter. Stockhausen's hat es keine im Elsaß gegeben & daß ich in Paris geboren, im Elsaß groß ge|4|worden bin, das ist nicht meine Schuld. Keiner meiner Brüder ist französisch gesinnt, nur die Schwestern & die Mutter haben warme Gefühle für Frankreich, weil Napoleon der Dritte den Papst beschützte, weil der Regent Frankreichs nur als ältester Sohn der Kirche betrachtet wurde und den Katholicismus beschirmte. Nun zieht aber der "Sohn" von Rom weg. Wer weiß welch Wendung die Ereignisse in Steben nehmen werden & was denn die Strenggläubigen von ihrem abtrünnigen Monarchen denken werden. |5| Was ich Frankreich verdanke das wiegt nicht schwer. Garcia der mich als Sänger gebildet hat ist Spanier. Vom Conservatorium in Paris hatte ich nur sehr mangelhaften musikalischen Unterricht. Hätte mein seliger Vater nicht im Hause für Musikmachen gesorgt & Clavirstunden & Violinunterricht geben lassen, der Aufenthalt in Paris hätte mir wenig genützt. Von Frau Schumann, Joachim, Brahms & Kirchner habe ich mehr gelernt als von allen Andern. In Frankreich wurde ich gelehrt |6| daß der Mensch nichts, auch nicht das Mindeste ohne den Zustand der Gnade (ein schwer zu erklärendes Dogma) vollbringen könne, daß Alles irdische Eitelkeit sey, nur Eines, das Seelenheil sey wichtig, Künste & alles Schöne nur Verblendung. Ich mußte bis anno 1851 beichten. Es sind noch keine zwanzig Jahre daß ich mündig bin! Wie die obige Lehre allen Sinn für Weltliches, Schönes in einem erregteren Gemüth erstickt wenn es stets den unerreichbaren Himmel zugewendet wird|7| das kann nur derjenige wissen der es durchgemacht hat. Schiller & Goethe durfte ich zu Hause nicht lesen. Ich war zwanzig Jahre alt & kannte von unsern großen Dichtern nichts. Erst in Paris durfte ich lesen. Das war die Erziehung im Elsaß! Von J. S. Bach war mir nie eine Note zu Gesicht gekommen. Von Schubert kein Lied. 1852 lernte ich durch die unvergleichliche Schröder Devrient die ersten Schumann'schen Lieder kennen! Ich war 26 Jahre alt! Dank dieser Erziehung im Elsaß habe |8| ich weder Mendelssohn, noch Schumann, noch Chopin, noch Heine & Béranger, in Paris, kennen gelernt. Wenn man von großen Männern nichts weiß interessiert man sich in der Jugend nicht für sie. Nein, liebe Frau Schumann wäre meine Mutter nicht im Elsaß, ich ließe mich gleich in die Südarmée einschreiben & machte den Feldzug mit. Es ist ein peinliches Gefühl zu hause zu sitzen wenn die Rüder sich für das schöne Vaterland schlagen. Erlauben Sie mir durch den Druck[?] dieser Gesinnung Ausdruck zu geben & zürnen Sie mir nicht darob. Ich bitte um ihre Zustimmung.

Ihr von Herzen dankbarer
J. St.


Die Kinder sind wohl. Gretchen wird morgen 4 Jahre alt. Bevor das Dritte da ist darf ich nicht von hause fort.

  Absender: Stockhausen, Julius (1547)
  Absendeort: Cannstadt
  Empfänger: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Empfangsort:
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 7
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Jenny Lind-Goldschmidt, Wilhelmine Schröder-Devrient, Julius Stockhausen, Pauline Viardot-Garcia und anderen Sängern und Sängerinnen / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Jelena Josic, Thomas Synofzik, Anselm Eber und Carlos Lozano Fernandez / Dohr / Erschienen: 2023
ISBN: 978-3-86846-018-6
730 - 733

  Standort/Quelle:*) D-B, s: Mus. Nachl. K. Schumann 3,23
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



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