23.01.2024

Briefe



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ID: 19530
Geschrieben am: Mittwoch 02.07.1862
 

Colmar. 2. July. 1862.

Liebe Frau Schumann!
Ich wollte Gestern schon ungeduldig werden, u da kam Ihr Brief! Wir waren beim Mittagstisch u ich bat um Erlaubniß gleich zu lesen. So sehr mich Ihr <Brief>Schreiben erfreut hat so macht es mich doch auf der andern Seite sehr betrübt. Ich hätte mich so sehr gefreut Johannes u Dietrich zu sehn! Auch H. Bargiel! Aber um’s Himmels Willen! Warum schrieb mir der nachlässige Brahms nicht eine Zeile nach Colmar wie ich ihn gebeten hatte? Ich kann nicht |2| begreifen daß die jungen Leute alle so unfreundlich u unhöflich werden? Ich adressirte meinen Brief an Hiller der Brahms gewiß gesehn hat. Warum nicht melden daß er nach Kreuznach gehe, u mich bitten auch hin zu kommen? Es ist mir unbegreiflich! Es ist als wäre man gar nichts, weil man nicht auch componiren kann! Je mehr man aber von der Natur erhalten hat, je nachsichtiger muß man gegen andere seyn! Wenn ich denke daß ich hier ruhig gesessen habe u nur Pflicht und Langeweile Dirigirt habe wärend [sic] in Münster am Stein bei Fr Schumann musicirt worden ist! ich möchte vor |3| Aerger u Ungeduld aus der Haut fahren! Das war gewiß nicht schön von Brahms! Was nun Segesser betrifft so möchte ich Ihnen den Rath geben gleich zu schreiben. Das Wetter wird Ende July, etwa den 20. wieder schön, u wenn es jetzt noch geschneit hat in der Schweiz, es wird später um so schöner. Ob aber der Flügel in Ihr Zimmer transportirt werden darf weiß ich nicht! Denn es haben Stammgäste auf Kaltbad selbst den Flügel zahlen helfen in der Hoffnung bessere Künstler hinauf zu locken als nur Schweizer Schulmeister oder Organisten: Aber Sie können um zwei Stunden bitten um sich zu üben: das wird wohl zu machen seyn! Auch wegen dem Preise thun Sie am besten direct an <ihn> Segesser zu schreiben, noch besser |4| vieleicht [sic] an seine Frau, denn sein Deutsch versteht eine Deutsche schwerlich. Ich denke auch bis Mitte July ruhig hier zu bleiben, dann Viardots in Baden zu besuchen u mit Ihnen nach Luzern zu reisen. Jedoch wünscht meine Schwester Adèle ich möchte bis Ende des Monats hier bleiben weil sie dann einen Gefährten nach Tannenfels hätte; sie soll sich dort erholen u darf vor der Zeit, wegen des schwachen Beines noch nicht reisen. Mir ward übrigens die Zeit hier nicht mehr so lang! Ich habe mich ans Clavierüben gemacht, u lese, u musicire fleißig; jedoch, ergreifende, gefühlvolle Lieder darf ich nicht singen; hingegen, glaub’ ich, ich könnte die ganze Schöpfung singen u dirigiren |5| es würde mir nichts schaden. Letzten Donnerstag <b>probirten wir den ganzen ersten Theil u am andern Morgen war ich um 5 wieder auf u spazirte mit Georges Schlumberger über die Berge…. nach Münster. Leider nicht Münster am Stein! Es ist ein Marsch von 5 Stunden, aber eine wahre Promenade! Lauter Tannen Wälder! Das Wetter begünstigte uns sehr u wir wollen recht bald wieder so eine Tour machen. Des Sonntags musicire ich von 10–12 bei mir. Man spielt Quartette, begleitet mir Bach’sche Arien u wir wollen nächstens die Cantate auf Johannis Tag lesen!13 Es sind drei schöne Arien für Bass u Alt darin, u ich singe abwechselnd männlich oder weiblich! |6| Sonst ist alles beim alten! Die Philharmonische Gesellschaft hier thut was sie kann, bringt aber wenig zu Stande! Wollen Sie aber en passant ein Concert geben so studirt man extra ein Concert von Beethoven oder Mendelssohn ein, aber, aber ........ die Saison scheint mir doch nicht zuverlässig; es kommt immer wieder Sonnenschein, u der jagt die Leute nicht in den Concertsaal. Meinen Cellisten, den jungen Lübeck aus Haag, erwarte ich Heute oder Morgen; dann sollen Sie auch ein Quartett gelegentlich mit mir spielen können! Was Sie von Kirchner schreiben betrübt mich wahrhaftig! Ich werde ihm tüchtig den Marsch machen! –
Adieu! grüßen Sie die l. Ihrigen Alle so wie ich Sie grüße.

Ihr ergebener J. Stockhausen

  Absender: Stockhausen, Julius (1547)
  Absendeort: Kolmar
  Empfänger: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Empfangsort:
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 7
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Jenny Lind-Goldschmidt, Wilhelmine Schröder-Devrient, Julius Stockhausen, Pauline Viardot-Garcia und anderen Sängern und Sängerinnen / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Jelena Josic, Thomas Synofzik, Anselm Eber und Carlos Lozano Fernandez / Dohr / Erschienen: 2023
ISBN: 978-3-86846-018-6
567 - 570

  Standort/Quelle:*) D-B, s: Mus. Nachl. K. Schumann 2,48
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



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