23.01.2024

Briefe



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ID: 19053
Geschrieben am: Samstag 30.06.1866
 

Wien 30. Juni 1866.

Hochverehrte, theure Freundin!
Unser Freund Flatz wieß mir neulich eine Stelle Ihres Briefes an ihn, in welcher Sie meiner mit wahrer Theilnahme gedenken. Nicht diese liebe Äußerung ist es, welche mir heute (gleichsam moralisch zwingend) die Feder in die Hand giebt, sondern ein wahres Bedürfniß, Ihnen, ehe ich Wien verlasse, einige Worte von mir zu sagen.
Das liebenswürdige Versprechen, daß Sie mit mir nach der Schweiz gehen wollten, wenn ich Sie in Baden besuchte, hat mir wohl sehr in Kopf und Gemüthe gelegen, denn es wären mir in Ihrer Nähe und |2| in der herrlichen Natur Tage des besten Genusses zu Theil geworden; seit Wochen bin ich überzeugt, daß ich aus materiellen Gründen an die Ausführung eines so schönen <>Planes nicht denken darf. Der Verlust dieser großen Freude wird mir durch den deutschen Krieg paralisirt; auch wenn ich die Reise hätte unternehmen können, so würde ich es doch nicht zu Wege bringen, mich von Wien zu entfernen, so lange unser Schicksal auf der Schneide des Schwertes schwebt. Dieser entsetzliche und doch so nöthige Krieg nimmt seit Wochen meine Seele so ganz gefangen, daß ich eigentlich für Alles Andere untauglich bin; die Zukunft und |3| das Wohl meines deutschen Vaterlandes, welches von dem Ausgang dieser Schlächterei abhängt, nehmen meinen kleinen Verstand völlig in Anspruch, und ich arbeite seit Wochen wie im Traume. Gott verleihe dem Rechte den Sieg. In Rücksicht dieser furchtbaren Aufregung haben Sie wohl Nachsicht mit mir, theure Freundin, wenn ich Ihnen dießmal so armselig schreibe. Ich habe mit dem vollsten Interesse von Flatz vernommen, wie Sie Ihre Zeit seit unserer Trennung glücklich hingebracht, und ich freue mich aufrichtig, daß Sie sich in behaglicher Ruhe, und in einer Gegend befinden, wohin wohl die gräßliche Kriegesfurie nicht kommen wird. Das Verhältniß, um auf ein schöneres Thema überzugehen, |4| das ich zu Ihnen habe, ist mir ein frohes und erhebendes; solche kerngesunde Naturen, wie Sie, wirken außerordentlich auf mich; das habe ich durch Ihren diesjährigen Aufenthalt in Wien so recht tief empfunden. Vor sechs Jahren stand ich nur mit offenem Munde vor Ihnen, jetzt bin ich dem Verständniß des Künstlers und Menschen in Ihnen näher gekommen, und es ist mir ein erfreulich Zeichen meines eigenen Wachsthums; möge ich bald wieder reichliche Gelegenheit haben, meine Seele an Ihnen zu laben. Ich habe ein winziges Gastspiel in Raab u Brünn und gehe dann in die Einsamkeit der österreichischen Berge. Grüßen Sie bestens Frl Marie. Gott erhalte Sie!
Treulich der Ihrige
Jos Lewinsky

  Absender: Lewinsky, Josef (2591)
  Absendeort: Wien
  Empfänger: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Empfangsort:
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 4
Briefwechsel Clara Schumanns mit Maria und Richard Fellinger, Anna Franz geb. Wittgenstein, Max Kalbeck und anderen Korrespondenten in Österreich / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Klaus Martin Kopitz, Anselm Eber und Thomas Synofzik / Dohr / Erschienen: 2020
ISBN: 978-3-86846-015-5
705f.

  Standort/Quelle:*) D-B, s: Mus. Nachl. K. Schumann 2,177
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



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