23.01.2024

Briefe



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ID: 18872
Geschrieben am: Donnerstag 11.01.1883
 

Wien d. 11. Januar 83.

Hochgeehrte Frau!
Die Manuscripte und Copien liegen zum Abgange bereit in postmäßiger Verpackung da – und doch kann ich mich nicht entschließen sie Ihnen zu schicken. Mir ist als sollte ich von einem vertrauten Freunde, an dem ein Stück meines Lebens hängt, mich losreißen, in der sicheren Voraussicht ihn niemals wieder zu sehen. Er wendet |2| sich zum Gehen, hält schon
die Thürklinke in der Hand und blickt noch einmal um. Der ernste Blick seines Auges scheint zu rufen: Besinne dich, noch ist es Zeit, sprich ein gutes Wort, und ich will bei dir bleiben! – So haben auch die beiden Packete in ihrer stummen Sprache zu mir geredet. In der ersten Aufwallung hatte ich Alles zusammengeschnürt und nur ein paar Zeilen hinzugelegt, eine kurze Begleitadresse in Versen, die nicht viel mehr enthält als ein |3| möglichst ruhiges Lebewohl. Als aber das Mädchen2 kam um die Sachen zur Post zu besorgen, und ich mich noch immer nicht von ihnen trennen konnte, sprach meine Frau das erlösende Wort und sagte: „Du solltest doch noch einmal an Frau Schumann schreiben.“ Und nun komme ich, alles Trotzes und Zornes ledig, als ein Bittender, halb Abgewiesener, und bringe unsicher und verlegen mein Anliegen vor. Vor Allem vergeben Sie mir meine Unbesonnenheit oder Eigenmächtigkeit! Sie soll die letzte sein wie <es> sie die erste war. Hätte ich das |4| Capitel nicht für durchaus harmlos und unbedenklich gehalten, so würde ich es sicherlich nicht ohne Ihre Einwilligung weggegeben haben. Der Herausgeber der Revue ist mein bester Freund in Wien, und ich habe ihm mit dem Aufsatz aus einer großen Verlegenheit geholfen. Hätte ich denken können, daß Frau Therese noch lebt und in ihrer zweiten Ehe, nach mehr als einem halben Jahrhundert, über die traurigen Erfahrungen der ersten noch nicht weggekommen ist, so würde ich jene Stelle gestrichen haben. Auch irren Sie, wenn Sie glauben, ich wolle das |5| Material in Feuilletons verzetteln. Jener Aufsatz ist kein Feuilleton sondern ein Teil des Buches, dem ich nur eine Einleitung gegeben, und an dem ich Anderes hinweggenommen habe um für den vorliegenden Zweck ein kleines Ganzes zu gewinnen. Obendrein wußte ich nicht, daß eine derartige Publication, welche, meiner Ansicht nach, dem Werke förderlich ist, Ihrem Geschmack nicht entspräche. Da ich nun bei dieser Gelegenheit einsehen gelernt, daß jede Unbesonnenheit schlechte Früchte trägt, und ich mein Verfahren, auch wenn ich es entschuldige, lebhaft |6| und aufrichtig bereue, so könnte es bei diesem einen Fall sein Bewenden haben, ohne daß darum der ganze Plan in Frage gestellt zu sein brauchte. Schlagen Sie indessen meinen guten Willen und die Fähigkeit ihn auszuführen zu gering an, so bedauere ich nichts so sehr als daß Sie in meiner Person sich geirrt haben, und ich wünsche Ihnen, Sie mögen einen Besseren finden, der des großen und mühevollen Auftrages zu Ihrer Zufriedenheit sich entledige. Ich werde den Verlust meiner Zeit, die |7| ich auf dieses Werk schon gewandt, immer als einen Gewinn ansehen und ohne Groll von der Erfüllung meines liebsten Traumes abstehen, wenn Sie wirklich überzeugt sind, daß die Lösung unserer
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Beziehungen der Biographie Ihres Gatten dient oder förderlich ist. Meine Privatgefühle kommen dabei nicht in Betracht, und ich werde immer sein in treuer Verehrung
Ihr
ergebenster
Max Kalbeck.

  Absender: Kalbeck, Max (785)
  Absendeort: Wien
  Empfänger: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Empfangsort:
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 4
Briefwechsel Clara Schumanns mit Maria und Richard Fellinger, Anna Franz geb. Wittgenstein, Max Kalbeck und anderen Korrespondenten in Österreich / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Klaus Martin Kopitz, Anselm Eber und Thomas Synofzik / Dohr / Erschienen: 2020
ISBN: 978-3-86846-015-5
650f.

  Standort/Quelle:*) D-B, s: Mus. Nachl. K. Schumann 4,215
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



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