Wien den 24. Oct. 1882
St Alserstr. 20.
Hochverehrte Frau!
Ich bitte Sie, mich nicht für nachlässig zu halten, weil ich Ihnen die Broschüre von Kalbeck erst heute zurücksende. Was soll ich Ihnen darüber sagen? ich finde Inhalt und Form recht unerquicklich. Ich weiß Ihnen Besseres zu erzählen. Vor einigen Tagen hatte ich einen Brahms-Abend bei mir. Brahms neues Trio und Streichquartett mit Brahms am Piano und Hellmesberger’s Quartett. Ich lade zu solchen Abenden nur |2| Künstler und Freunde der wahren Hohen Kunst. Hätte ich Sie herzaubern können! Es giebt auch bei solchen Abenden glückliche und unglückliche Varianten. Diesmal war es einer der glücklichsten. Brahms war von allerbester Laune; nicht grade daß Alles schon vollendet gelang, aber die neuen Werke selbst begeisterten die Spieler; beide Stücke wurden gleich zwei Mal hintereinander gespielt, und es entwickelte sich bei allen, ich möchte fast <S>sagen auch in der Luft meines Musik-|3|saals eine musikalisch warme Stimmung, nach der man an andern Abenden vergeblich ringt. Brahms stöhnte und ächzte beim Spiel (unter uns gesagt, Sie kennen ihn gewiß so); man hatte die Empfindung, er habe es eben erst niedergeschrieben, so heiß strömte die Empfindung bei ihm aus; der Flügel ächzte freilich auch, denn, um den im ganzen mehr weichen Hellmesberger zu einer solchen Energie zu treiben, wie ihn gleich der erste Satz vom Trio (C dur) braucht, – dazu ist freilich einiger Impuls nöthig. |4| Selbst in mäßigem Raum braucht die Klangfarbe von Klavier Geige und Cello zusammen für den <Höhrer> Hörer immer erst eine Zeit bis sie harmonisch zusammenschmilzt; ist dann der Satz polyphon (Brahms scheint, wie Beethoven von sich sagt, auch mit allen Stimmen obligat zur Welt gekommen zu sein) so braucht man einige Zeit <>mehr um sich hineinzugewöhnen; drum sprach der erste Triosatz weniger an, obgleich er bei der Wiederholung zündend wirkte. |5| Im Scherzo greift Brahms zum ersten Mal in die Mendelssohnsche Weise der Behandlung ein, doch das Trio das ist dann freilich wieder ein Brahms, wo man glaubt, die ganze Welt ist Klang und Wonne. Andante Thema mit Variationen und Finale beide knapp gehalten, doch herrlich, zumal der letzte Satz. Kann sich Brahms in Variationen noch selbst erreichen? wohl kaum denkbar! Und nun das Streichquintet [sic] in F dur! Ich hatte die Partitur schon im Juni; hinter jedem Satz stand „im Frühling 1882“ und wahrlich Alles tönt und athmet „Frühling“. |6| Das Stück ist nur mit dem B dur Sextett zu vergleichen. Wohllaut, Wonne, Musik von Rafaelischer Schönheit! und doch in ihrer Einfachheit wie herrlich kunstvoll Alles gemacht, drei knappe Sätze, und in allem steigert die kontrapunktische Kunst nur die Schönheit des musikalischen Klanges; es fließt Alles so natürlich daß man es gleich behalten muß und die Empfindung hat, es kann nicht anders sein. Es ist hier unmöglich zu sagen, ein Satz sei schöner oder bedeutender, oder interessanter oder kunstvoller |7| wie der andere. Das Adagio wird wiederholt von einem Allegretto unterbrochen, und ist doch ein so schönes Ganze [sic]; und wie das Fugato im letzten Satz; ich glaubte endlich 20 Contrapunkte zu dem Thema zu hören, und doch Alles so klar, so durchsichtig, gar lässig anzuhören, wie er mit den Tönen und Motiven und Rhythmen spielt. – Was mir ganz neu an dem Quintett zu sein scheint, ist die Behandlung der beiden Bratschen. Wie<> er es gemacht hat, weiß ich nicht, aber man glaubt immer ein Sextett mit 2 Celli |8| zu hören, und jeder Spieler spielt immer in der festen Ueberzeugung, er habe das Wichtigste zu sagen. Ich kann Ihnen nichts Schöneres wünschen als daß Sie bald Gelegenheit haben, dies Quintett zu hören. Was sagen Sie zu den neuen Liederheften? Die ein- und zweistimmigen Lieder finde ich am schönsten; es sind herrliche Perlen darin, gleich das erste, dann „vergebliches Ständchen“, dann die Mutter und Tochter in den Erbsen [sic]; welche Poesie |9| hat er in diese einfachen Lieder hineingedichtet! In den ersten beiden Heften ist auch viel Schönes, doch kann er sich da schwer selbst übertreffen. Besonders schön finde ich die Composition des hübschen romantischen Gedichtes von Felix; wie Schade daß der gute Junge das nicht mehr erlebt hat. Ich hatte auch Kalbeck geladen um ihm von Walter den „Nachtwandler“ vorsingen zu lassen; doch Walter sang gerade in der Bellini’schen Nachtwandlerin am gleichen |10| Abend; ist das nicht komisch? Ich mag eigentlich das Gedicht nicht; so ein mondsüchtiger Dichter gefällt mir nicht; die Gedichte darf man dann auch nur beim Mondschein lesen. Seien wir froh daß wir diese krankhafte Poesie hinter uns haben! Doch ich muß nun endlich mit meinem Geschwätz aufhören, sonst halten Sie mich für einen zweiten Kalbeck. Was nützt da auch alles |11| Reden! Hören muß man und Fühlen und die Gänsehaut muß Einem überlaufen, und „Schluckser“ muß man kriegen (man sagt hier: „es stoßt Einen der Bock“) – sonst ist es doch nichts. Sagen läßt sich das ja Alles nicht!
all das Glück, was man im Schönen empfindet. Und wie [gut] das einem armen Menschen thut, der so wie ich den ganzen Tag immer Elend in seinem Beruf sieht, und der meist nicht helfen kann, wo er am |12| liebsten Alles hingäbe, um zu helfen, und dann immer trösten soll, und es doch nicht ehrlich thun kann, weil er selbst nicht dran glaubt! – ach da ist die Kunst eine Erquickung, eine Seeligkeit.
Nun adieu! herzliche Grüße an Marie und Eugenie! noch tausend Dank für die Nüsse und auch noch für die liebe Weise, in der sie mir zukamen. – Bitte nur Brahms nichts von diesem Brief zu sagen, er liebt es nicht, wenn man über ihn ausschwätzt!
Ihr aufrichtig ergebenster
Th Billroth