23.01.2024

Briefe



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ID: 14121
Geschrieben am: Mittwoch 03.09.1862
 

Luzern, den 3. September 1862.
Mein lieber Johannes,
ich weiß nicht recht, wie ich’s anfangen soll, Dir mit ruhigen Worten zu sagen, welche Wonne ich an Deinem Quintett habe. Ich habe es viele Male gespielt, und ist mir das Herz ganz voll davon! Das wird ja immer schöner, herrlicher! Welch innere Kraft, welcher Reichtum in dem ersten Satze, wie gleich das erste Motiv so ganz einen erfassend! Wie schön für die Instrumente, wie sehe ich sie da ordentlich streichen. Du müßtest Dich mit jeder Komposition selbst mitbringen, damit man so recht über jeden Takt mit Dir sprechen könnte. Wie ist da wieder alles so wundervoll ineinander gewoben. Wie kühn ist der Uebergang beim Buchstaben B, wie innig das zweite erste Motiv, dann das zweite in Cis moll, wie dann die Durchführung dieses und der Übergang wieder ins erste, wie da die Instrumente sich so wunderbar verschmelzen, und am Schluß die träumerische Stelle, dann das accell. und der kühne leidenschaftliche Schluß – ich kann’s nicht sagen, wie’s mich rührt, so mächtig ergreift. Und welch Adagio, wonnig singt und klingt das bis zur letzten Note! Immer fange ich es wieder an und möchte nicht aufhören. Auch das Scherzo liebe ich sehr, nur kommt mir das Trio etwas sehr kurz vor? Und wenn kommt der letzte Satz? Ich habe es gestern Kirchner und Stockhausen vorgespielt – sie sind ebenso entzückt davon, und wir ließen Dich nachher in Champagner leben. Zürne mir nicht, daß ich Dir nicht eher darüber schrieb, aber wirklich, ich konnte nicht, weil mir zu voll ums Herz war – wie kann man recht ordentlich schreiben, wenn einem innen alles singt und klingt. Du mußt nun auch heute fürlieb nehmen, ich fühle es besser als ich’s sagen kann. Habe 1 000 Dank, und bitte, schicke mir bald den Schluß!
Die Variationen haben wir schon öfter gespielt und mit großer Freude daran, wobei ich denn immer noch besonders meine Freude an Kirchners Enthusiasmus habe. Ich möchte wohl behaupten, daß er nächst Joachim am besten Dich versteht, es entgeht ihm nichts. Ich soll Dich von ihm und Stockhausen sehr grüßen.
Du hast mir nichts geschrieben, daß ich Dir das Quintett wiederschicken soll – läßt Du es mir, bis der Schluß dabei ist? Bitte!
Wir haben noch zwei wunderschöne Tage im Oberland gehabt, wo wir namentlich in Grindelwald die mächtige Natur mit Wonne genossen.
Dort hat man die großen Schneeberge himmelhoch über sich –, die Gletscher vor sich – es ist eben unbeschreiblich großartig. Auf Giesbach waren wir auch, und da entzückte uns wieder die Lieblichkeit um den in etwa sechs verschiedenen Abteilungen herabstürzenden Wasserfall, von dessen Großartigkeit sich wieder kein Begriff geben läßt.
Hier ist seit ein paar Tagen große Konzert-Unruhe. Es ist eine prachtvolle neue Orgel hier gebaut worden, welche heute eingeweiht wird; es spielen verschiedene Organisten, auch Kirchner, Stockhausen singt, Hegar, ein recht angenehmer Geiger, spielt, alles mit Begleitung der Orgel. Es ist da ein neues Register, welches die menschliche Stimme nachahmt, das entzückt alle, leider ist es so schwach, daß ich es mit größter Anstrengung mitunter nur höre. Stockhausen singt die Arie aus Faust „Hier ist die Aussicht frei“, Kirchner phantasiert dann weiter fort, wobei er z. B. das Stück von den drei Frauenstimmen in A moll aus dem letzten Teil mit einflicht, das von der größten Wirkung ist.
Ich bleibe nun bis zum 10. hier, Luzern poste restante, dann gehe ich bis zum 20. nach Schloß Bipp bei Wiedlisbach, Kanton Bern, bei dem Herrn Riggenbach-Stehlin, dann wohl auch einen ganzen Monat nach Guebwiller zu Madam Schlumberger, wo ich einigen Damen Stunden und dabei einige Konzerte im Elsaß geben werde und zugleich eine Weinlese mitmachen werde – mir ganz etwas Neues. Da man im Oktober doch noch nicht viel anfangen kann, nahm ich dies Engagement an, es ist doch besser, etwas zu verdienen, als nichts, noch dazu, wenn man so viel gebraucht hat. Ich sitze hier am See – könnte ich Dich ’mal herzaubern! . . . . . .
Von Joachim hatte ich Brief. Er schreibt u. a., daß er mit den 6 Konzerten bis Weihnachten in Hannover seine künstlerische Tätigkeit beendigt zu haben gedächte. Das verstehe ich nicht! Er schreibt auch, daß verschiedenes Notenpapier von seiner Tätigkeit jetzt auf dem Lande zeugen würde, er aber bis jetzt in großem Trubel gelebt habe. Deine Symphonie hofft er im Winter in Hannover aufzuführen!!! Ich bin oft ganz traurig, daß er so lange in England, man hat so gar nichts mehr von ihm und hat ihn doch so lieb, entbehrt ihn so!
Nun sage ich Dir Adieu! Grüße alle Deinigen herzlichst, und laß Dir innigst die Hand drücken von Deiner
alten treuen Freundin
Clara.
Willst Du mir nicht die Freude machen, Deinen ersten Symphonie-Satz nach Bipp zu schicken? Du erhältst ihn zurück, wenn Du willst.
Schreibe bald.






  Absender: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Absendeort: Luzern
  Empfänger: Brahms, Johannes (246)
Empfangsort: Hamm bei Hamburg
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 3
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Johannes Brahms und seinen Eltern / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Thomas Synofzik / Dohr / Erschienen: 2022
ISBN: 978-3-86846-014-8
842-846

  Standort/Quelle:*)
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



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